Gret Haller
Amerika und Europa ­Freunde für immer?
Gret Haller über Differenzen im Staatsverständnis
nzz 19. Oktober 2002 Nr. 243 Seite 89 pl Teil 01

Von 1996 bis 2000 war Gret Haller als
Ombudsfrau für Menschenrechte des Staates Bos-
nien und Herzegowina tätig.Die Aufgabe der von
der OSZE gewählten Juristin und Politikerin be-
stand darin,Beschwerden zubeurteilen.Bei ihrer
Aufbauarbeit merkte die ehemalige schweizeri-
sche Nationalrätin:Nicht zuletzt die unterschied-
lichen Auffassungen,die Amerikaner und West-
europäer von einem funktionierenden Bund
haben,behindern das Entstehen einer staatsbür-
gerlichen Identität auf dem gerade erst befriede-
ten Balkan.Nach ihrer Zeit in Sarajewo ging Hal-
ler den transatlantischen Differenzen systema-
tisch auf den Grund.Und sie schrieb das Buch
«Die Grenzen der Solidarität ».

Dayton und der Anti-Terror-Krieg

Grösstenteils mit Verweis auf sekundäre Quel-
len referiert die Autorin Details jener Momente,
die Europa trotz zahlreichen Übereinstimmungen
von den USA abgrenzen.Während etwa der
Westfälische Frieden 1648 entschied,die Religion
dem Staat unterzuordnen,war es just die Konfes-
sion,die alle anderen Eigenschaften der Auswan-
derer in «God's own country »dominierte.Der-
weil das Individuum diesseits des Atlantiks allein
schon durch seine Existenz der Gesellschaft ange-
hört,ist in den Vereinigten Staaten ein Bekennt-
nis zuden nationalen Werten nötig,um als wah-
rer Amerikaner akzeptiert zusein.Führt in
Europa die politische Diskussion zu Mehrheiten,
soll das Zusammenwirken der Minderheiten in
der Politik der USA das Entstehen von Majoritä-
ten vermeiden.Während auf dem alten Kontinent
die Ethik als in die Gesetzgebung eingeflossen
gilt,werden in Amerika,wo das Strafrecht das
Element der Rache sehr betont,Moralvorstellun-
gen öffentlich,vor Gericht diskutiert.Und
schliesslich machte erst ein Souveränitätsverzicht,
für Amerikaner per se ein Akt der Schwäche,die
Einigung Europas möglich.
Hallers Leistung besteht erstens darin,anhand
dieser und anderer Kontraste zu erklären,warum
das Abkommen von Dayton (1995),das die USA
durchsetzten und in Bosnien ­als treibende Kraft
einer internationalen Gemeinschaft ­umzusetzen
versuchten,nicht anders werden konnte und war-
um es ausgesprochen fehlerhaft sei:Zum Beispiel
verhindere die ethnisierende Grundstruktur des
Gesamtgebildes Bosnien und Herzegowina,die
an das von Konkurrenz geprägte System in Über-
see anknüpft,das Bemühen um multiethnisches
Miteinander.Zweitens und vor allem liefert Hal-
ler eine Folie,die Positionen und Verhaltens-
weisen Amerikas und Europas nach dem 11.Sep-
tember 2001 verständlicher macht.So erscheint
die wachsende Präsenz der US-Flagge in der
Neuen Welt,in diesen Breiten häufig als unnötig
und übertrieben betrachtet,als Ausfluss des tradi-
tionellen aktiven Zuspruches zum Land.Und so
geht ein eventueller militärischer Alleingang der
USA ­in Europa ein Verstoss gegen das Gebot
kollektiven Handelns ­mit der Überzeugung kon-
form,es sei gut,übergeordneten Instanzen mög-
lichst wenig Macht zu geben.

Angstbilder

Ihre Gedanken präsentiert Gret Haller meist
stringent,sieht man von manchem Begriffs-
jonglieren und Verklausulieren nebst allerlei Red-
undanzen ab.Und bloss selten stört ein dozieren-
der Ton.Obwohl die Menschenrechtlerin nicht
müde wird herauszustellen,wie sehr sie interkon-
tinental vermitteln wolle,und der Band wechsel-
seitige Toleranz propagiert,nehmen die anti-
amerikanischen Spitzen im Laufe der Darstellung
zu.Europa,das nach Ende des Kalten Krieges
«zum natürlichen Gegenspieler der Vereinigten
Staaten geworden »sei,hält die (sozialdemokrati-
sche)Verfasserin mitunter für massiv bedroht:
«Insoweit eine US-Amerikanisierung Europas
stattfindet und insoweit diese auf eine Ideologie
der Entstaatlichung hinausläuft,tangiert sie län-
gerfristig nicht nur das europäische Freiheitsver-
ständnis,sondern auch die europäische Friedens-
ordnung.»
Den limitierten Charakter der transatlantischen
Beziehungen,den Haller feststellt,deutet freilich
bereits der Titel der Publikation an.Und das
vorangestellte Motto ­Kants Appell,sich seines
eigenen Verstandes zu bedienen ­hebt gewiss auf
das oft mangelnde Selbstbewusstsein europäi-
scher Politik ab,das im Gegensatz steht zum gros-
sen Durchsetzungsvermögen amerikanischer In-
itiativen.An Plausibilität gewinnt die Studie,
wenn die Politikerin theoretische Konstrukte mit
ihren praktischen Erfahrungen in Bosnien und
Herzegowina untermauert.Und immer da wird es
problematisch,wo das Wissen über die USA
offensichtlich einzig dem Schrifttum entnommen
ist,und zwar jenem,in dem ein virulentes Thema
des Landes,der viele Bereiche bestimmende Ras-
sismus,unter den Teppich gekehrt wird.Im Gan-
zen schlägt Haller mit ihrem Buch gleichwohl
eine breite Schneise in das Dickicht,in dem aktu-
elle Diskussionen im Westen,unter anderem zum
Thema Irak,stecken zu bleiben drohen.

Thomas Leuchtenmüller

Gret Haller:Die Grenzen der Solidarität.Europa und die
USA im Umgang mit Staat,Nation und Religion.Aufbau-Ver-
lag,Berlin 2002.288 S.,Fr.34.80,¤ 20.­.