Gret Haller
Vom brüchigen Wertekanon des Westens
Gret Haller warnt in ihrem neusten Buch vor dem Fundamentalismus auch und vor allem vor der US-amerikanischen Variante
von Jürg Müller «Der Bund», Bern, 17. September 2005

Der Begriff «Fundamentalismus» hat Konjunktur ­ vor allem im Zusammenhang mit islamistischem Extremismus oder gar Terrorismus. Doch Fundamentalismus ist mehr ­ und auch anderes als jene geistige Verfassung, die sich derzeit am augenfälligsten im Sprengstoffgürtel um den Leib von Selbstmordattentätern manifestiert.

Die frühere Stadtberner Gemeinderätin, Nationalrätin und Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien und Herzegowina, Gret Haller, öffnet den Blick auf zwei fundamentalistische Strömungen, mit denen Europa konfrontiert sei: Die eine habe ihren Ursprung im Islam, die andere in den USA. In ihrem Buch «Politik der Götter. Europa und der neue Fundamentalismus» thematisiert die Autorin auch und vor allem die amerikanische Variante. Dreh- und Angelpunkt ihrer vor allem historisch-ideengeschichtlichen Argumentation ist die unterschiedliche Rangfolge von Staat und Religion in Europa und den USA. In Europa schloss der Westfälische Friede von 1648 die Periode der Religionskriege ab: Es war die Geburtsstunde des Völkerrechts, und das innerstaatliche Recht begann, die Religion zu domestizieren. Es war auch die Zeit der puritanischen Auswanderung in die USA; die Puritaner lehnten jegliche Einmischung staatlicher Behörden in ihre religiöse Ordnungsstruktur ab. «Die puritanische Haltung zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat hat die Vereinigten Staaten grundlegend geprägt», schreibt Haller. Die Auswanderer nach Amerika hätten eine bewusste Antithese zur staatlichen Einbindung der Religion in Europa geschaffen.

Verwandte Fundamentalismen

Die Autorin beleuchtet die Auswirkungen dieser Haltung auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft und zeigt, wie brüchig der vermeintlich gemeinsame Wertekanon des Westens ist. Sie sieht in verschiedenen Bereichen eine strukturelle Verwandtschaft zwischen dem militanten Islamismus und dem Selbstverständnis der USA: Durch die Einteilung der Menschen in gute und böse werde nicht nur die universelle Geltung der Menschenrechte ausser Kraft gesetzt; auch das Prinzip der Gleichheit werde durch die missionarische Vorstellung der Auserwähltheit in Frage gestellt. Das hat Auswirkungen auf die Anerkennung völkerrechtlicher Prinzipien. Europa habe nach seiner leidvollen Geschichte gelernt, dass staatliche Souveränität zum Wohle aller auch geteilt werden könne und müsse. In den USA dagegen manifestiere sich die «Unfähigkeit, eine mit wem auch immer geteilte Souveränität auch nur in Betracht zu ziehen, heute in einer Schärfe wie kaum jemals zuvor».

Heikle Trennlinie Staat – Markt

Haller zeigt auch die direkte Linie auf, die vom religiösen Auserwähltheitsdenken der Einwanderer zur Dominanz des Marktprinzips über das Staatsprinzip führt. Die calvinistisch geprägte Prädestinationslehre koppelt religiöse Auserwähltheit mit wirtschaftlichem Erfolg. Die wirtschaftliche Ungleichheit ist damit gottgewollt. Die amerikanische Revolution wurde zudem von einer Oberschicht geführt, die nicht allein die politische Unabhängigkeit vom britischen Mutterland, sondern auch «wirtschaftliche Unabhängigkeit von dessen tendenziellem Interventionismus» erstritt. «Die Französische Revolution wandelte sich demgegenüber auch in eine Armenrevolte, und dieses Grundmuster hat Europa seither immer wieder gezwungen, einen gewissen sozialen Ausgleich anzustreben.» Die Verschränkung von wirtschaftlichen und religiösen Vorstellungen habe jenseits des Atlantiks «zu einer anderen Trennlinie zwischen Staatlichkeit und Markt geführt als in Europa, wo diese Verschränkung der beiden Vorstellungen unterblieb», schreibt Haller.

Für die Autorin steht ausser Zweifel, dass man «die gegenwärtig dominierende US-amerikanische Ideologie als Fundamentalismus» bezeichnen darf: Die Ideologie erfülle «alle Charakteristiken des Fundamentalismus, vom Absolutheitsanspruch bis zur Gewaltbereitschaft». Sie warnt deshalb davor, das US-amerikanische Menschenbild in Europa Fuss fassen zu lassen. Denn das «Friedenswerk» der EU stehe «auf dem Fundament der Überwindung von nationalen Auserwähltheitsvorstellungen, und es ist deshalb unvereinbar mit einem Menschenbild, in dem Auserwähltheit überhaupt Platz findet».

Die SVP im Visier

Auch in der Schweiz soll gemäss Haller «jenen religiös-konservativen Kräften zum Durchbruch verholfen werden, welche im gegenwärtigen US-amerikanischen Kulturkampf den liberalen Kräften gegenüberstehen». Im Visier hat Gret Haller die SVP blocherscher Provenienz, die «mit absoluten und undiskutierbaren Wahrheiten» operiere. Diese Leute «moralisieren und grenzen alle Nicht-Gläubigen aus. Kurz gesagt, sie spielen sich als Auserwählte auf.» Die Exponenten dieser Partei versuchten «nichts mehr und nichts weniger, als die res publica ­ so, wie sie sich in der Schweiz in einer langen Tradition herausgebildet hat ­ aus den Angeln zu heben. Dieser Versuch, die Schweiz in ein anderes Fahrwasser zu bringen, kommt einer US-Amerikanisierung gleich.» Damit steht die Schweiz für Gret Haller letztlich am Scheideweg zwischen Auserwähltheitsdenken und europäischer Integration.

Subtile Analytikerin

Nach ihrem 2002 publizierten Buch «Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion» hat sich Gret Haller mit dem jüngsten Werk definitiv als subtile Analytikerin europäisch-amerikanischer Bruchlinien etabliert. Nicht alles, was Haller schreibt, sind neue und überraschende Erkenntnisse; doch gelingt es ihr, bekannte historische und ideengeschichtliche Gegebenheiten in neue und aktuelle Zusammenhänge einzubetten und die Sinne für transatlantische Reibungsflächen in der Gegenwart zu schärfen. Haller huldigt allerdings in Bezug auf Europas Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, einem Optimismus, der zur gegenwärtigen Lage der EU in Kontrast steht.

Die Autorin verbindet die Sachlichkeit der Analyse mit einer klaren politischen Botschaft: Es ist der Appell, an Europas Tradition der Aufklärung, des Vorrangs des Staates vor der Religion, der Achtung der Menschenwürde, der auf Gleichheit beruhenden Rechtsstaatlichkeit und der Stärkung des Völkerrechts festzuhalten. Denn: «Europa hat keine Mission, Europa hat eine Verantwortung.» Prägnanter kann man das unterschiedliche Rollenverständnis der USA und Europas in der Welt nicht charakterisieren.