Gret Haller
Der Markt hat's gegeben, der Markt hat's genommen
Alle reden von der Wiederkehr der Religion. Doch wir sind weder «postsäkular» noch «postreligiös». Die eigentliche Religion der Gesellschaft ist der Glaube an den Kapitalismus
von Christoph Türcke, in Literaturen, Das Journal für Bücher und Themen, 12 / 05

Der 11. September 2001 war kaum einen Monat her, da sprach Jürgen Habermas in seiner Frankfurter Friedenspreisrede von der aufziehenden «postsäkularen Gesellschaft» ­ und fand großen Zuspruch. Richtete sich der Angriff aufs World Trade Center in letzter Instanz nicht gegen eine ganze Epoche, eben die «säkulare»?

1774 und 1789 hatten Amerikanische Unabhängigkeitserklärung und Französische Revolution Modelle eines «säkularen» ­ wörtlich: weltlichen ­ demokratischen Staates geformt: auf der Basis allgemeiner Menschenrechte, nicht religiöser Glaubenssätze. Religion wurde «frei», das heißt persönliche Ermessenssache. Der Staat sollte sich in ihren Inhalt und Vollzug nicht mehr einmischen, die Kirche umgekehrt in Staatsangelegenheiten nichts mehr entscheiden. Der Einfluss der christlichen Kirchen ging denn auch zurück, Wissenschaft und Industrialisierung brachten Freigeisterei und Atheismus mit sich, die Kirchen begannen, an Mitgliederschwund zu leiden. Indessen griff das Modell des säkularen Staats von Nordamerika und Europa auf die anderen Erdteile über und leitete auch in den Gebieten des Islam, Hinduismus und Buddhismus die Trennung von Religion und Staat ein.

Dagegen gibt es nun weltweit Opposition. Islamistische Terroranschläge sind nur deren Exzesse. Ihre Alltagspraxis ist aber nicht weniger beachtenswert, wie Jürgen Habermas in seinen jüngsten Studien mit dem Titel «Zwischen Naturalismus und Religion» hervorhebt (siehe Literaturen 10 / 2005). «In vielen muslimischen Ländern, aber auch in Israel, ersetzt religiöses Familienrecht jetzt schon staatliches Zivilrecht oder stellt eine alternative Option zu ihm dar. In Ländern wie Afghanistan und Irak steht eine im Großen und Ganzen liberale Verfassungsordnung unter dem Vorbehalt der Kompatibilität mit der Scharia.» Und in den USA, der Wiege des säkularen Staats? «Bush ist von 60 % der spanischsprachigen Wähler, von 67 % der weißen Protestanten und von 78 % der Evangelical oder Reborn Christians gewählt worden.»

Kirchen wie Einkaufszentren

Neue journalistische Recherchen haben die mentale Hefe dieses Wahlsiegs genauer untersucht. Die Reporterin Andrea Böhm berichtete etwa in der «Zeit», dass Bush «nicht nur hervorragend organisierte christliche Lobbygruppen auf seiner Seite hatte, sondern auch einen neuen Typus von Kirche: riesige Gotteshäuser mit Tausenden von Gläubigen, Radiosendern, Fernsehprogrammen, Verlagshäusern und Pastoren». Diese «Kirchen» unterscheiden sich äußerlich oft kaum von Einkaufszentren. Es sind meist lokale Gründungen, entstanden aus dem Unternehmergeist einiger «Wiedererweckter» und konfessionell ungebunden. «Kein Bischof, keine Diözese kann ihnen Vorschriften machen. Fast alle sind evangelikal und konservativ.
Ihre Gläubigen halten die Bibel für unfehlbar, die Evolutionslehre für fragwürdig bis falsch, Homosexualität für eine Sünde und Jesus für den Retter und Erlöser.» Ihre Gottesdienste sind Massenveranstaltungen, ihre Kollekten ergeben fünf- bis sechsstellige Summen.

Die amerikanische Journalistin Barbara Victor hat in ihrem jüngsten Buch «Beten im Oval Office» keine Mühe gescheut, die Fäden dieses christlich-fundamentalistischen Geflechts, dem sie etwa 80 Millionen Amerikaner zurechnet, bis ins Weiße Haus zu verfolgen. Sie versichert, zuverlässige Quellen dafür zu haben, was dort geschah, als die Meldung von der Ergreifung Saddam Husseins eintraf.

«Die ersten fünf Telefonate, die George W. Bush tätigte, nachdem er seine engsten politischen Berater informiert hatte, galten Vater George H. W. Bush, Reverend
Billy Graham und Reverend Franklin Graham, dem damaligen Justizminister und Generalstaatsanwalt John Ashcroft und Bushs Gemeindevorsteher von der ÐUnited Methodist Churchð in Dallas. Zwanzig Minuten später rief er, mit John Ashcroft an seiner Seite und den drei Predigern in einer Konferenzschaltung, seine Eltern erneut an. Als alle zugeschaltet waren, bat Präsident George W. Bush Reverend Franklin Graham, als Vorbeter zu agieren. Der Präsident und der Justizminister knieten im Oval Office nieder und senkten den Kopf, während Graham betete: ÐJesus, diese Mission trägt Deine Handschrift, und es ist Dein Werk, o Herr, dass das Böse, das Saddam Hussein verkörpert, der Gerechtigkeit zugeführt wird. Im Namen Jesu Christi danken wir Dir für dieses großartige Geschenk, das Du dem rechtschaffenen Volk der gesegneten Vereinigten Staaten von Amerika gemacht hast.ð»

Das weltweite Erstarken okkulter religiöser Kräfte ist unbestreitbar, «postsäkular» gleichwohl ein irreführendes Wort dafür. Es unterstellt, die Säkularisierung
habe stattgefunden, und nun breche die Epoche ihrer drohenden Rücknahme an. Doch was heißt Säkularisierung genau? Schon ihr primäres Merkmal, die Trennung von Staat und Kirche, kann ganz Verschiedenes bedeuten. Die Schweizer Publizistin Gret Haller erinnert in ihrem Buch «Politik der Götter» daran, dass es vorwiegend Puritaner waren, mit denen die Auswanderung nach Nordamerika begann. Sie flohen vor der Bevormundung des englischen Staats ­ aber nicht, weil sie Anarchisten waren, sondern Rigoristen. Nichts ging ihnen über die innere Ordnung
ihrer Glaubensgemeinschaften. Sie machte die äußere staatliche Ordnung überflüssig und störend. «Schon in den Anfängen der Besiedlung bildete sich auf kommunaler Ebene eine Art demokratischer Strukturen heraus», allerdings «in den Händen der Religionsgemeinschaften. Entweder bildeten diese selbst die einzige vorhandene Ordnungsstruktur auf kommunaler Ebene, oder sie dienten als Ausgangspunkt für kommunale Zusammenschlüsse und organisierten diese. Wer sich unter solchen Umständen demokratisch beteiligen wollte, musste also Mitglied einer Religionsgemeinschaft werden.»

Erfolg im Geschäft: ein Fingerzeig Gottes

Die amerikanische Verfassung bleibt unverständlich ohne ihren materialen Fundus: patriarchale kommunale Basisgruppen, die je nach Beleuchtung eher demokratisch, theokratisch oder separatistisch schillern. Landadel, Latifundienbesitzer, Sklavenhalter sind selbst schon auf diesem Fundus großgeworden und in vieler Hinsicht mit ihm verwachsen. Sie haben ihn modifiziert, nicht beseitigt. Der Zusammenschluss zu «Vereinigten Staaten» geschah sowohl, um die Bevormundung Englands endgültig loszuwerden, als auch, um künftig einen rechtlich garantierten Freiraum für jenes spezifisch amerikanische Gemeindeleben zu haben, in dem sich Frömmigkeit und Arbeitsethos, Bibelstudium, Selbstdisziplin, Eigeninitiative und wirtschaftliches Erfolgsstreben wechselseitig stützten. Die Rechte aller Menschen, die es zu schützen galt, waren zunächst vornehmlich die Rechte protestantischer Christen, nicht etwa afrikanischer Sklaven oder indianischer Ureinwohner. Mit Religionsfreiheit war weit weniger die Freiheit jedes Einzelnen gemeint, nach eigener Façon selig zu werden, als vielmehr Entfaltungsfreiheit für jenen protestantischen Geist, der im Geschäftserfolg den einzig zuverlässigen Fingerzeig dafür sah, von seinem Gott nicht verworfen zu sein.

Zwei, drei, viele Säkularisierungen

Schutz der Religion vor dem Staat: das war in den USA zunächst mit Religionsfreiheit gemeint. In Frankreich hingegen: Schutz des Staates vor der Religion, genauer, vor einem katholischen Klerus, der als «Zweiter Stand» einem morschen absolutistischen Regime die geistige Stütze gab und dem «Dritten Stand», dem Bürgertum, die rechtliche Stellung verweigerte, die seiner wirtschaftlichen Macht entsprach. Es macht nun durchaus, wie Gret Haller zeigt, einen Unterschied, wen man als potenziellen Störenfried des Gemeinwesens erachtet. Ist es die Religion, so ist man umso mehr geneigt, vom Staat die Gewährleistung jener Gemeinschaftsqualität zu erwarten, die in der französischen Revolutionsparole «Brüderlichkeit» heißt; «Solidarität» würde man heute weniger sexistisch sagen. Ist aber der Staat der Störenfried, so kann «Brüderlichkeit» nur als etwas Nicht-Staatliches verstanden werden: als eigenverantwortliche Basis-Solidarität in Familien, Gemeinden, Freundeskreisen oder Nachbarschaften, die vor Staatsübergriffen gerade zu schützen ist. Der Staat kann dann kein Sozialstaat sein, sondern nur der rechtliche Rahmen für Basis-Solidarität.

Religionsfreiheit und säkularer Staat sind in Amerika und Frankreich sehr verschieden gewichtet ­ mit Folgen für ein unterschiedliches Gesellschafts- und Gemeinschaftsverständnis bis heute. Man darf von zweierlei Säkularisierung sprechen ­ und, wenn man will, noch eine dritte oder vierte hinzunehmen, etwa England, wo die Queen bis heute Staatsoberhaupt der anglikanischen Kirche ist, oder Italien, wo die Pontifikate die Regierungsbildungen weit überstrahlen.

Der Heilige Stuhl lehrt das Feilschen

In all diesen sehr unterschiedlich ausgeformten Säkularisierungen steckt jedoch
eine tiefe Gemeinsamkeit. Stets bedeutet Religionsfreiheit freie Fahrt für den neuzeitlichen Geschäftsgeist. Der war ja nie auf den Calvinismus beschränkt. Seine Wiege war einst der Heilige Stuhl höchstselbst. Als um die Wende zum 14. Jahrhundert das Papsttum in eine Art Vasallenrolle gegenüber dem französischen König geraten war und in Avignon residieren musste, kurierte es seine angeschlagene Autorität durch die Entwicklung eines Finanzsystems, dessen Raffinement seinesgleichen sucht. Eine apostolische Kanzlei regelte die Zuteilung kirchlicher Ämter, Lehen und Pfründen neu und zentral. Sie ließ sich die Vergabe durch einen ganzen Strauß von Gebühren, Honoraren und Taxen entgelten, die den Charakter eines Kaufpreises allenfalls notdürftig verhehlten, und exerzierte so die Käuflichkeit von Amt und Würden, Grund und Boden vor. Erst zwei Jahrhunderte später wuchs sie sich zu einer weltlichen, «säkularen» Praxis aus und stand dem Wirtschaftsgesetz der modernen kapitalistischen Gesellschaft Pate.

Zunächst sind Waren ja etwas ganz Profanes. Deshalb können sie gegen Geld so leicht den Besitzer wechseln. Und sie haben etwas Egalisierendes: Über alle Stände hinweg wird getauscht. In ihrer Eigenschaft als Warenbesitzer sind alle Menschen gleich ­ nur noch quantitativ unterschieden, durch Mehr oder Weniger, nicht mehr qualitativ, durch freien oder unfreien, höheren oder niederen Stand. Ein Fugger, der mehr hat als Karl V., kann dem Kaiser zu seinen Konditionen leihen. Und wo schließlich diejenigen, die die meisten Goldstücke zählen, auch sozial am meisten zählen, da naht das Ende des Gottesgnadentums. Der Markt ist also keineswegs, wie Gret Haller meint, die Sphäre der Ungleichheit, der sich die politische Idee der Gleichheit entgegengesetzt hat. Alle Ungleichheit des Markts beruht vielmehr auf einer Gleichheit, wie zuvor noch keine unter den Menschen war. Sie ist der materiale Unterbau, der den Gedanken der politischen Gleichheit überhaupt erst kreditwürdig und durchsetzungsfähig gemacht hat. Und im 18. Jahrhundert war der Markt derart expandiert, dass er reif wurde, «Staat zu machen». Die demokratische Verfassung ist als Form des Markts konkret geworden. Ihm einen zivilisierten Rahmen und Rechtssicherheit zu geben, ist bis heute ihre primäre Funktion.

Der Markt spielt Schicksal

Damit haben sich allerdings die Verhältnisse auf spektakuläre Weise umgekehrt. Während sich um den Markt ein säkularer Staat bildet, hört der Markt selbst auf, etwas bloß Profanes zu sein. Er bekommt eine existenzielle, um nicht zu sagen: kultische Dimension. Er ist nun nicht mehr nur Umschlagplatz von Waren, sondern wird zur zentralen Vergesellschaftungskraft. Wenn Amt und Würden, Grund und Boden käuflich werden, dann auch die dazugehörigen Arbeitskräfte. Indem der Markt Weltmarkt wird, wird er auch Arbeitsmarkt. Die erdrückende Mehrheit muss dort ihre Arbeitskraft verkaufen, um an die nötigsten Lebensmittel zu kommen. Damit steigt der Markt zu der Instanz auf, die über Wohl und Wehe, Sinn und Unsinn, Sein und Nichtsein von Menschenleben entscheidet. Er beginnt, Schicksal zu spielen.

Der Markt nimmt an und verwirft wie ein calvinistischer Gott. Lässt er die Ware Arbeitskraft liegen, so leidet sie nicht nur Mangel; sie verfehlt auch ihre Bestimmung. Sie bekommt zu spüren, dass unverkäufliche Waren keinen Sinn haben. Daher trifft Arbeitslosigkeit existenziell. Es hilft den Betroffenen wenig, von allen Seiten zu hören, sie seien «trotzdem» vollwertige Menschen. Der Markt spricht dagegen. Nimmt er die Arbeitskraft aber an, so ist sie keineswegs schon in Abrahams Schoß, vielleicht nur in einer Tretmühle ­ und gehört dennoch zu den Erwählten. Niemand erwartet zwar ernstlich, dass der Markt von Leiden, Krankheit und Tod errette. Wohl aber erlöst er von dem Fluch, unverkäuflich zu sein. Seine Errettungen sind fad, aber real. Seine Göttlichkeit muss, im Unterschied zu der all seiner Vorgänger, nicht erst eigens bewiesen werden. Der allgemeine Erwerb von Lebensmitteln und Reichtum bestätigt sie unablässig.

Diese Göttlichkeit ist allerdings im doppelten Sinn «heruntergekommen»: auf den Boden der Tatsachen, damit aber auch aufs platte Realitätsprinzip. Der Markt verheißt nichts als sich selbst. Sein «höchstes Gut» ist die Hochkonjunktur. So armselig er sich damit einerseits gegen die so genannten Hochreligionen ausnimmt, so sehr überstrahlt er sie andererseits. Er ist nämlich nicht nur
eine Religion unter vielen, sondern auch Religionsmarkt. Auf seinem Forum und zu seinen Konditionen tanzen alle herkömmlichen Religionen an zur globalen Bewerbung um Anhänger, auch «Kampf der Kulturen» genannt. Seine besondere Religion ist zugleich das allgemeine Medium der anderen Religionen. Die Art, wie der Markt die Welt anzuschauen lehrt, lagert sich allen anderen Weltanschauungen vor ­ wie eine Brille, oder, mit Kant gesprochen, wie eine allgemeine Weltanschauungsform, durch die alle einzelnen Weltanschauungen sehen und gesehen werden.

Erst wer den kapitalistischen Weltmarkt als religiöses Phänomen ernst nimmt, versteht das enorme Aggressionspotenzial in der Welt gegen «den Westen» ­ und die Tatsache, dass es sich zunehmend in religiöser Sprache ausdrückt. Wo in Asien und Afrika auch nur ansatzweise säkulare Staaten mit demokratischer Verfassung entstanden sind, da hat der kapitalistische Markt zuvor längst angefangen, das soziale Feld umzugraben. Dabei hat er nicht nur Entwurzelung, Vertreibung und Verarmung mit sich gebracht, sondern auch Faszination. Und zwar gerade dort, wo die Demütigung am tiefsten empfunden wurde: im Islam, der Siegerreligion par excellence, die seit
Mohammed mit phantastischen Eroberungen verknüpft ist, die im Laufschritt Mekka, Jerusalem, Mesopotamien und Nordafrika in doppeltem Sinne «für sich eingenommen» hat und die im Sieg womöglich so generös war wie keine andere Religion zuvor. Das Maß an Duldung jedenfalls, das Christen und Juden in den mittelalterlichen Kalifaten zuteil wurde, haben christliche Würdenträger gegen Muslime nicht aufgebracht.

Schleier tragen, Cabrio fahren

Aber wehe, der Islam war unterlegen. Das Realitätsprinzip der Religion, das ihm im kapitalistischen Markt begegnete, hat ihn ungleich härter getroffen als das Christentum. Der Islam erlebte den Markt als christliche Ausgeburt und zudem als eine Macht, die gegen Allahs Heere deshalb triumphierte, weil sie nicht nur strategisch erfolgreich war, sondern zudem mit ungreifbarer Gewalt, auf göttlich-widergöttliche Weise, auch ins Innere von Allahs Getreuen eindrang. Auch bei strengsten Muslimen sind die Regeln des Markts inzwischen in die alltägliche Haushaltsführung eingegangen, nicht nur in die betriebswirtschaftliche, auch in die seelische. Deshalb die Fülle bizarr ambivalenter Reaktionsweisen: Mullahs, die gegen «den Westen» sind, aber für die mikroelektronischen Kommunikationsmittel, die er gebracht hat und die sich so effizient gegen ihn wenden lassen; Jugendliche, die für
Coca-Cola und Nike, aber gegen Amerika sind; Schleier tragende Frauen am Steuer schnittiger Autos und in den Chefetagen großer Firmen.

Was hier stattfindet, bezeichnet haargenau ein alter theologischer Begriff: Anfechtung. Was anficht, ist nie nur außen. Es hat im eigenen Inneren Kredit, es reißt hin und her. Viele, zumal unter den Privilegierten, können das gut aushalten; sie haben sich mit der westlichen Lebensweise arrangiert. Selbstverständlich ist auch der Islam offen für Religionsfreiheit. Deren vormoderne Ansätze finden sich sogar eher bei ihm als im Christentum. Islam ist nicht gleich Islamismus; aber der Islamismus zeugt von der besonders großen Verwundbarkeit des Islam durch den kapitalistischen Markt. Islamismus ist eine Extremform des Abwehrkampfs gegen eine vitale Anfechtung, und Angriff ist die beste Verteidigung. Der Hass gegen «den Westen» ist dort am größten, wo die Angst am größten ist, vom Marktkult bereits behext zu sein. Und wie weit diese Behextheit reicht, dafür ist ja gerade der 11. September Kronzeuge. Eine gewaltigere Verbindung von Islamismus und Showbusiness ist vorerst kaum vorstellbar. Es wurde «dem Westen» seine eigene Melodie vorgespielt ­ ein Spektakel veranstaltet, gegen das jede Hollywood-Inszenierung verblasst.

Auch im Geldschein steckt Religion

An diese Vorgänge reicht das Konstrukt von der «postsäkularen Gesellschaft» nicht heran. Diese Wendung bewegt sich in der Spur Max Webers. Dessen Theorem von der «Entzauberung der Welt» ist jedoch schon im Ansatz einäugig. Eine bestimmte Welt wurde entzaubert ­ nämlich die vormoderne ­ und zugleich ein globaler Warenzauber entfaltet. Säkularisierung ist einerseits real; demokratische Verfassungen mit verbriefter Religionsfreiheit sind tatsächlich integraler Bestandteil westlicher Kultur geworden. Säkularisierung ist andererseits Schein ­ nämlich lediglich Chiffre für die Gründung einer neuen Religion, die an Expansionskraft und Realitätstüchtigkeit alle anderen übertrifft. Diese Religion ist Jürgen Habermas fremd geblieben, der Marx'sche Gedanke vom «Fetischcharakter der Ware» bloß eine Formel. Kapitalismus als solcher reduziert sich für Habermas auf ein Bündel «systemischer Mechanismen», eine «normfreie Regelung von Kooperationszusammenhängen», auf einen profanen Verschiebebahnhof des gesamtgesellschaftlichen Güter- und Geldverkehrs, der freilich gelegentlich die Unart hat, fremdzugehen, in die Sphäre der «Lebenswelt», der «symbolisch vermittelten Interaktion» einzudringen, die Normbildungsprozesse zu dominieren ­ und dann in seine systemischen Schranken zurückzuweisen ist. Als ob sich nicht schon dem symbolisch aufgeladenen Design von Geldscheinen ansehen ließe, dass der Markt immer schon vom Symbolgehalt der «Lebenswelt» durchdrungen ist ­ und der darin steckenden Religion.

Zu dieser aber bewahrt Habermas auch in seiner gegenwärtigen, der «postsäkularen» Phase sein bewährtes äußerliches Verhältnis. Vage spricht er in seinem Buch vom «Wahrheitspotenzial» der Religion, von ihren «Sensibilitäten für verfehltes Leben», von denen die säkulare Gesellschaft zehre ­ und die er seiner «nachmetaphysischen» Großtheorie ebenso einverleiben möchte wie alle anderen sozialen Phänomene auch. Gelegentlich lässt er ein Beispiel vorbeihuschen: So habe der theologische Gedanke der Gottesebenbildlichkeit im säkularen Begriff der Menschenwürde eine «rettende Übersetzung» gefunden. Würde er auch nur ein wenig beim Problem der Übersetzung verweilen, dann drohte die Einsicht, dass theologische Begriffe durch «Übersetzung», sei es in andere Sprachen, sei es in andere Kontexte, schwerlich ihren theologischen Gehalt verlieren. Und dann wäre es womöglich nichts mit dem «nachmetaphysischen» Charakter eines Denkens, das sich auf Menschenwürde gründet. Also lieber nicht so genau hingeschaut. Wie Habermas selbst zu Gott, seiner Existenz, seinem Begriff steht? Er rückt damit nicht wirklich heraus.

Heine spricht für Tante Lobat

Gegen solche Leisetreterei wirkt es wie eine Befreiung, wenn ein Autor in entwaffnend offener Form in den status confessionis tritt und auf der Grenze von persönlicher Betroffenheit und Reflexion, von Literatur und Wissenschaft den Leser auf eine Erkundung dessen mitnimmt,
was er den «Schrecken Gottes» nennt. Der Deutsch-Iraner Navid Kermani, Orientalist und Belletrist, sucht in seinem gleichnamigen Buch nach einer eigenen Sprache für das, was sich «durch alle drei abrahamitischen Religionen zieht». Er beginnt in seiner nächsten Umgebung, nämlich bei seiner Tante, einer sanften, frommen Muslimin. «Niemals habe ich von ihr ein lautes oder auch nur unfreundliches Wort gehört, kaum je eine Klage, obwohl sie die letzten ein, zwei Jahrzehnte schrecklich unter Arthrose und allen möglichen anderen Krankheiten litt (). Gott lässt immer eine Stelle übrig, an der wir Ihm danken können, sagte sie immer.»

Dann kam der Schlaganfall und das, was er aus ihr machte. Kermani streut Verse aus dem Buch Hiob in seine Erzählung ein, aus dem Koran, dem Midrasch und dem Neuen Testament, schließlich Briefstellen und Verse von Heinrich Heine, den die Krankheit «zur Rückkehr zum Gott der hebräischen Bibel» bewog. Heine wird zum Sprachrohr für Tante Lobat, die nicht mehr sprechen konnte. «Gottlob, dass ich jetzt wieder einen Gott habe, da kann ich mir doch im Übermaße des Schmerzes einige fluchende Gotteslästerungen erlauben; dem Atheisten ist eine solche Labung nicht vergönnt.»

Damit ist der Boden bereitet, auf dem Kermani in das Werk eines im Westen nahezu unbekannten islamischen Mystikers einführt, dessen «Buch der Leiden» (entstanden um 1200) er als ein großes Stück Weltliteratur vorstellt. Der Name des Autors ist Faridoddin Attar, seine Protagonisten sind geplagte, gequälte Menschen, die an Allah verrückt werden und ihn aufs Heftigste schmähen, sich aber gerade durch Beschimpfung an ihn klammern ­ wie Heine. Diejenigen, die an Gott in Form verzweifelter Blasphemie festhalten, sind für Kermani die wahrhaft Frommen. Den wahren Glauben sieht er an jenem Lebensrand beginnen, wo die vordergründigen Errettungen des Marktes allesamt schal werden und Säkularisierung sich zu einem leeren Wort verflüchtigt.

Der Schmerz ist der Fels des Atheismus

Das macht Navid Kermanis Buch ergreifend. Er weiß darzustellen, was Schmerz ist, er weiß, dass der Schmerz der «Fels» des Atheismus ist, weil kein Argument die Existenz eines guten, rettenden Gottes beweisen kann, solange Schmerz und Not in der Welt sind. Und er weiß den Schmerz zum «Felsen» einer «Gegentheologie» zu machen: Solange Schmerz in der Welt ist, hören die Menschen nicht auf, nach Gott zu schreien, und sei es, dass sie ihn herbeischimpfen. Doch dabei geht Kermani einen Schritt zu weit. Allen Ernstes gibt er die Not «als Gottesbeweis» aus. Dadurch bekommt sie nolens volens etwas Triumphierendes. «Die Abschaffung Gottes mag im philosophischen Seminar gelingen (); als Mittel jedoch, sich der Anmaßung des Lebens zu erwehren, taugt sie für sich betrachtet nur, sofern man in der Lage ist, seinen gemütlichen Stoizismus auch in der extremen Not zu bewahren.»

Hier macht sich's einer zu leicht mit denen, die es sich mit Gott möglicherweise zu leicht machen. So gewiss menschliche Vernunft aus dem Schmerz stammt, so gewiss ist die Vernunft auch über den Schmerz hinausgewachsen. Sie braucht ein Mindestmaß an Schmerzfreiheit, um ihren eigenen Regeln überhaupt folgen zu können. Ohne eine Portion Stoizismus ließe sich auch über den Schrecken Gottes kein Buch schreiben. Stoische Phasen sind ein hohes Privileg, um nicht zu sagen, eine Gnade ­ der einzige Zustand, in dem rückhaltlos gedacht werden kann.

Zu ungegängelter Besinnung aber gehört, ebenso sorgsam zwischen Wünschen und Erwünschtem, Begriffen und Sachen zu unterscheiden, wie zu erkennen, dass es kein wunschloses Denken gibt. Noch der streng argumentative Anspruch auf gedankliche Konsistenz und Stimmigkeit will ja weit mehr als bloß richtige Sätze oder allgemeines Kopfnicken. Er ersehnt eine widerspruchsfreie, versöhnte Welt. Noch der rigoroseste Vernunftanspruch ist theologisch infiziert. Aussichtslos, keimfrei nachmetaphysisch denken zu wollen.

All dies besagt jedoch keineswegs, dass es die übernatürliche Instanz, die eine versöhnte Welt einzig herstellen könnte, auch wirklich gibt. Verantwortlicher Atheismus ist alles andere als «gemütlich». Er weiß um die fortbestehende Gottbedürftigkeit. Insofern ist er ganz dicht am Theismus. Aber eines weiß er nicht: ob er seinen eigenen Einsichten in allen Lebenslagen gewachsen sein wird. Wie einer auf der Folter seine Liebsten verraten kann, ohne dass sie ihm deswegen irgend weniger lieb wären, so können auch im Schmerz Einsichten schwinden, ohne dadurch minder wahr zu werden.

Spiritualität auf dem Marienfeld

Gottbedürftigkeit als solche ist freilich nicht etwas Gutes, sondern Schwäche. Die Blüten, die sie treibt, gehören stets argwöhnisch beäugt. Mit Recht hat der Philosoph Herbert Schnädelbach kürzlich bestritten, dass die Beisetzung von Johannes Paul II. oder der katholische Weltjugendtag in Köln irgendetwas für eine «Wiederkehr der Religion», also eine postsäkulare Epoche, beweisen. Zunächst einmal sind sie Events und haben mit großen Popkonzerten gemeinsam, jene «höheren» Gefühle zu mobilisieren, die bei solchen Massenveranstaltungen nun einmal wie im Treibhaus sprießen. Der Protest gegen die «kommerzielle Reduktion» des Lebens, den sie angeblich darstellen, artikuliert sich genau in den Bahnen jenes Designs, die das Showbusiness für solche Veranstaltungen vorsieht. Die Mehrheit derer, die auf dem Petersplatz oder dem Marienfeld «Transzendenz» oder «Spiritualität» erlebt haben wollen, hat von dem, was ihre Kirche über die Präexistenz Christi, seine jungfräuliche Geburt, den Teufel oder das Jüngste Gericht zu glauben verlangt, kaum eine Ahnung und will es auch gar nicht so genau wissen.

Was Schnädelbach beschreibt, ist ein marktförmig gemachtes, zum religiösen Fast Food verdünntes Christentum. Anders gesagt: christlicher Kult im Medium des Marktkults, christliche Weltanschauung, wie sie sich durch den weichzeichnenden Filter des Marktes darstellt. Aber dass diese auf ihr Realitätsprinzip heruntergekommene Religion eigentlich gar keine mehr sei, «dass wir hier im Westen in Wahrheit bereits in einem postreligiösen Zeitalter leben»: diesen überstürzten Schluss kann Schnädelbach nur ziehen, weil er den Kapitalismus, seinen Marktkult, seine Verkaufskathedralen, seine das Hier und Jetzt zelebrierenden Events ebenso wenig als religiöses Phänomen zu begreifen vermag wie Habermas.

Ausgerechnet zwei Schüler Theodor W. Adornos, die im Unterschied zu ihrem Lehrer nur noch «nachmetaphysisch» denken wollen, stehen für die abstrakte Alternative postsäkular-postreligiös. In deren Schubladen aber werden sich die konkreten Gestalten aktueller Religion nicht pressen lassen.

Christoph Türcke, Jahrgang 1948, hat Evangelische Theologie
und Philosophie studiert und ist Professor für Philosophie an
der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Soeben erschien seine Studie «Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift»

Bücher zum Thema

Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005, 372 S., 16,80 §

Jürgen Habermas, Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung., Über Vernunft und Religion, Herder, Freiburg 2005. 64 S., 9,90 §

Barbara Victor, Beten im Oval Office. Die christlichen Fundamentalisten in den USA und ihr Einfluss,auf die internationale Politik, Aus dem Amerikanischen von Gottfried Röckelein. Pendo, München 2005. , 341 S., 19,90 §

Gret Haller, Politik der Götter. Europa und der neue Fundamentalismus, Aufbau, Berlin 2005. 176 S., 18,90 §

Navid Kermani, Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, C. H. Beck, München 2005. 335 S., 24,90 §

Victor und Victoria Trimondi, Krieg der Religionen. Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse, Fink, München 2005. 500 S., 39,90 §

Dirk Baecker (Hg.), Kapitalismus als Religion, Kadmos, Berlin 2003. 314 S., 22,90 §