Gret Haller
Religion in den USA und in Europa oder Unterschiede zwischen den USA und Europa
Eine europäische Optik
Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag vom 20. November 2005 von Adrian Loretan-Saladin

Als Ombudsfrau für Menschenrechte in Sarajewo war Gret Haller konfrontiert mit einem unterschiedlichen Rechtsverständnis zwischen den dort agierenden Westeuropäern und US-Amerikanern. Dies löste bei der ehemaligen Parlamentspräsidentin und Quereinsteigerin als Diplomatin eine dritte Karriere aus, die Publizistische. Sie sucht zu verstehen, was sich in ihrer Zeit als Menschenrechtsverantwortliche des Staates Bosnien und Herzegowina (1996-2000) ereignet hat. Was sind die Gründe, die zu einem solchen Missverständnis unter den juristischen Mitarbeitenden diesseits und jenseits des Atlantiks geführt haben.

Auch in ihrem neuesten Buch beschreibt sie die Unterschiede im Rechtsverständnis zwischen den USA und Europa. Dabei soll keine Polemik gegen die USA entstehen, sondern eine Analyse (7) der Unterschiede zwischen zwei Kontinenten mit eigenem Selbstverständnis. Dennoch ist diese Methode nicht gefeit vor holzschnittartigen Vereinfachungen eines Denkens in zwei Modellen. Einige dieser Unterschiede sollen hier genannt werden:

USA-Europa

Politik und Moral wird in den USA weniger getrennt. Der amerikanische Präsident George W. Bush z.B. nannte Länder wie Nordkorea, Irak und den Iran eine «Achse des Bösen» . In einem transatlantischen Dialog müsste für Gret Haller deshalb der unterschiedliche Umgang mit Recht und Moral angesprochen werden: Europa tendiert für die Bewältigung der vielfältigen Gefahren auf diesem Planeten zu bindenden völkerrechtlichen und moralisch neutralen Regelungen. Seit 1990 dagegen «verweigern die Vereinigten Staaten systematisch die Einbindung in völkerrechtliche Verträge» .

Der Ungleichheit wird in den Vereinigten Staaten mehr Platz eingeräumt, z.B. im Bereich des freien Marktes. Hier begegnen sich Menschen als Ungleiche. Die Französischen Revolution dagegen habe die Gleichheit auf ihre Fahnen geschrieben, was bis heute prägt. Denn in Europa sei man bisher nicht gewillt die europäischen Sozialstandards für die Globalisierung ganz zu opfern. Bei einer Umfrage in den USA zum Thema, ob die Armen arm seien, weil sie faul sind, antworteten 64 % der US-Amerikaner mit Ja. In Europa waren es nur 25 %. Die Gleichung «arm = faul = moralisch verwerflich» ziehe über kurz oder lang die andere Gleichung «reich = arbeitsam = gut = gottgefällig = auserwählt» in den USA nach sich.

Das unterschiedliche Menschenrechtsverständnis behindert die gemeinsame Menschenrechtsarbeit der USA und Europas, was die Autorin persönlich in Sarajewo erlebt hat. Die individuelle Menschenwürde kann nur dann wirksam gedacht werden, wenn sie für alle Menschen gilt. Wer aber Gefangenen die Menschenrechte abspricht, z.B. auf dem von den USA auf Kuba errichteten Militärstützpunkt Guantánamo, muss sich nicht wundern, wenn «der Eindruck entsteht, das Konzept der Menschenrechte sei eine kulturimperialistische Erfindung des Westens» .

Die US-amerikanische Nation begründet sich religiös und moralisch, was im europäischen Staatsdenken nicht denkbar ist. Sie basiert gleichsam auf einem «Weltbild der Besseren» . Muslimen und US-Amerikanern sind gemäss Haller zwei Dinge gemeinsam, nämlich die überragende Bedeutung der Religion für die Identitätsbildung und die relative Bedeutungslosigkeit staatlicher Strukturen für das eigene Selbstverständnis. Das säkulare Europa erscheint dabei geradezu als Ausnahmeerscheinung. Denn in Europa wird Religion ins Private zurück gedrängt, weshalb sie weniger zum öffentlichen Selbstverständnis beiträgt als in den USA und in islamischen Ländern.

USA-Schweiz

Wo positioniert sich die Schweiz zwischen den USA und Europa? Die Widerstände der Schweiz gegen den Beitritt zur Europäischen Union führt Haller darauf zurück, dass die Schweiz mit den USA verschiedene historische Gemeinsamkeiten aufweise vor allem im Verhältnis von Politik und Wirtschaft. Das Zweikammersystem und der Föderalismus kennzeichnen sowohl die US-amerikanische und die Schweizerische Verfassung.

Als leidenschaftliche Bahnfahrerin erzählt die Autorin in eingestreuten Texten von ihren Bahnfahrten. Sie berichtet, welche grosse Rolle die Bahnprojekte beim Entstehen des neuen Bundesstaates (1848) spielten. Gegen Ende beschreibt die ehemalige Parlamentspräsidentin Haller die aktuelle Politlandschaft der Schweiz. Für die SP-Politikerin gibt es praktisch keinen Bereich politischer Auseinandersetzung mehr, «der im weltweiten Massstab ohne Mitberücksichtigung der Religionen diskutiert werden kann. weder die Sicherheitspolitik noch die Umweltpolitik und auch nicht die Wirtschaftspolitik. Wo immer die Trennlinie zwischen dem Prinzip der Gleichheit und jenem der Ungleichheit zur Diskussion steht , da scheinen rasch religiöse Werthaltungen auf» .

Die Autorin setzt sich kompetent mit dem unterschiedlichen Verständnis von Rechtsstaat diesseits und jenseits des Atlantik auseinander, wofür sie 2004 das Ehrendoktorat der Universität St. Gallen erhalten hat. Haller arbeitet die Unterschiede zwischen den Rechtsmodellen USA und Europa heraus. Ihr Modelldenken verschafft Übersicht, aber auch Vereinfachungen aus einer europäischen Optik.