Gret Haller
Frauen gestalten die Zukunft Europas
Referat anlässlich der 6.Generalversammlung des Oekumenischen Forums Christlicher Frauen in Europa, 25. August - 1. September 2002 in Celakovice (Tschechische Republik)

"Erst der Staat erlaubt es uns, Person zu sein; das ist die personentheoretische Pointe des Friedens. Im Krieg herrscht das Diktat der Gegenwart, unter dem sich das Leben in eine Sequenz von immer gleichen Selbsterhaltungsepisoden auflöst. Politik bricht das Diktat der Gegenwart, schafft Zukunft, erlaubt differenzierte Lebensplanung. Nur im Frieden vermag die persönliche Identitätsbildung zu florieren, nur der Frieden gibt der Selbstbestimmung eine Chance und erlaubt den Menschen, ein Leben als Person zu führen.» (1)

Sie erwarten von mir, dass ich einige Gedanken dazu vorzutrage, wie oder wodurch Frauen zur Gestaltung Europas beitragen können. Ich mache das sehr gerne, und ich möchte es in einer ganz persönlichen Art und Weise tun, die viel mit meinem bisherigen beruflichen und politischen Werdegang zu tun hat. Sie haben es gehört: Ich arbeitete während fünf Jahren in Sarajevo, und zwar unmittelbar nach dem Bosnischen Krieg. So werden Sie es mir nicht verargen, wenn ich Europa auch aus der Sicht des Balkans betrachte. Ich glaube heute – einige Jahre nachdem ich meine Arbeit in Sarajevo beendet habe -, dass diese Sicht auf das heute langsam wieder zusammenwachsende Europa mindestens so realistisch ist wie jene Sicht, die sich aus einer westeuropäischen Perspektive ergibt, zum Teil auch realistscher als die Sicht aus einigen anderen mittelosteuropäischen Regionen.

Ich möchte die Frage stellen, ob es eigentlich eine europäische Identität gibt. Und wenn es eine gibt, dann möchte ich fragen, ob sie etwas zu tun hat mit dem, was Frauen in der Regel interessieren könnte oder interessieren müsste. Dabei kann ich natürlich nur einige Aspekte herausgreifen, die mir besonders wichtig erscheinen. Ich werde meine Ausführungen folgendermassen einteilen: Zunächst werde ich zwei Ausgangspunkte wählen, um Europa charakterisieren zu können. Dann werde ich daraus zwei Folgerungen ziehen. Der erste der beiden Ausgangspunkte betrifft die Art und Weise, wie wir uns den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern dieses Kontinentes gegenüber einstellen. Der zweite Ausgangspunkt wird dann die Art und Weise betreffen, wie wir in Europa mit der Moral umgehen, mit «gut» und «böse» . Aber zuerst will ich mich nun auf den ersten Ausgangspunkt konzentrieren, also die Frage stellen nach dem Umgang mit den anderen Menschen, wie er sich in Europa entwickelt hat.

Ich glaube heute, dass man eine ganz grobe Einteilung im Umgang mit anderen Menschen machen kann, und zwar in zwei Grundkategorien, zwei Weltbildern, die je auf einem bestimmten Menschenbild beruhen. Die eine Art möchte ich umschreiben mit dem Stichwort «Wir und die Andern» . Die zweite Art beruht auf der Ueberzeugung, dass alle Menschen letztlich die selbe Würde haben, auch wenn sie sehr unterschiedlich sind. Die erste Art zu denken und andere Menschen zu beurteilen sucht immer nach Unterschieden, sie will herausfinden, was an anderen Menschen anders sein könnte als bei uns selber. Die zweite Art zu denken und andere Menschen zu beurteilen sucht immer nach Gemeinsamkeiten, sie sucht also nach Dingen, die der andere Mensch und wir selber gemeinsam haben. Wir könnten es auch so unterscheiden: Die erste Denkart sucht immer das Partikulare, während die zweite Denkart immer das Universelle sucht. In der ersten Denkart geht es um Detailkriterien aller Art, um kulturelle Prägungen, um die Sprache, die nationale Herkunft, die Staatsangehörigkeit, es kann auch um die gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit gehen, um «arm» oder «reich» , es kann um «gut» und «böse» gehen, oder vielleicht geht es auch um das Alter oder das Geschlcht. Anhand dieser Detailkriterien wird dann bestimmt, ob jemand zu uns gehört oder zu den Andern. Dabei spielen natürlich nicht alle diese Eigenschaften gleichzeitig eine Rolle, sonst wäre die Zuteilung nicht möglich, denn diese Detailkriterien kombinieren sich bei den verschiedenen Menschen ja unterschiedlich. Vielmehr wird meistens eines oder zwei dieser Kriterien herausgegriffen, so dass die Einteilung der Personen anhand dieser Eigenschaften möglich wird. Immer führt es aber zu einer Einteilung «Wir und die andern» . Ich bezeichne diese Denkweise im folgenden als die «partikulare Denkweise» , weil sie eben an einzelnen, partikularen Kriterien anknüpft. Die andere Denkweise, die ich als «universale Denkweise» bezeichne, hat es rein theoretisch gesehen einfacher. Sie will nicht auf einzelne, partikualre Kriterien abstellen, sondern sie sucht immer das Gemeinsame, und so stösst sie über kurz oder lang auf die Würde des Menschen. Diese Würde ist das einzige, was wirklich allen Menschen gemeinsam ist, in allen übrigen Eigenschaften unterscheiden sich alle voneinander, übrigens nicht nur in den objektiv zuschreibbaren Eigenschaften, sondern auch charakterlich. Der Gedanke, dass alle Menschen die selbe Würde haben, schlägt sich bekanntlich nieder in der Philosophie der Menschenrechte, die allen Menschen gleichermassen zustehen.

Europa beruht sehr stark auf dieser universellen Denkweise, und dafür möchte ich nun einige Beispiele geben. Die Religionskriege des 16. und 17.Jahrhunderts fanden ihren Abschluss im westfälischen Frieden von 1648. Damals wurde die Religion zur Privatsache erklärt, zu einer Frage des Gewissens. Es sollte künftig nicht mehr möglich sein, unter Berufung auf die Religion Kriege zu führen. Hier wurde gleichsam zum ersten mal vereinbart, dass man nicht mehr das Spiel von «Wir und die Andern» spielen wolle, wir Protestanten und die anderen, die Katholiken, oder umgekehrt. Nicht mehr die Konfessionszugehörigkeit als Detailkriterium sollte wichtig sein, sondern das, was die Menschen trotz unterschiedlicher Konfession verbindet. Allerdings löste man das Problem damals noch so, dass der Landesfürst die Staatsreligion bestimmte, wobei denjenigen, die sich dem nicht unterziehen wollten oder konnten, die Möglichkeit der Auswanderung offenstand. Die definitive Individualisierung der Religion erfolgte erst 150 Jahre später mit der französischen Revolution. Ueberreste dieser alten Denkweise des konfessionellen «Wir und die Anderen» finden sich heute immer noch in erschreckender Weise in Nordirland.

Jetzt mache ich einen grossen Zeitsprung bis nach dem zweiten Weltkrieg. Jahrhundertelang hatten sich Deutsche und Franzosen über das Denkmuster «Wir und die Andern» definiert, was immer wieder zu Kriegen führte, kulminierend im ersten und zweiten Weltkrieg. Gerade diese Entsetzlichkeiten führten dann aber nach 1945 zu einem Paradigmenwechsel: Nicht mehr Nationalität und Staatsangehörigkeit sollten alleinige Grundlage der Identität bleiben, sondern das gemeinsame Kriterium des Europäer und Europäerin sein. Der Prozess des Uebergangs vom partikularen Denken zum universellen Denken setzt sich in Europa unentwegt fort, manchmal in grosseren Sprüngen, manchmal auch unmerklich und langsam im Kleinen.

Es gab aber und es gibt regelmässig Rückschritte und Rückfälle, und dies schon sehr bald. Der westfälische Frieden von 1648 hat zwar Religionskriege in der Folge erfolgreich verhindert. Aber als dann die Romantik den Begriff der Nation erfand, übernahm in Europa die Nation genau die Funktion, welche vorher die Religion gehabt hatte. Staaten definierten sich seit der französischen Revolution als Nationalstaten, also Staaten in der Form oder sozusagen im Gefäss der Nation, und so setzten sich die Kriege unter den Fahnen der Nationen fort, oder vielmehr unter den Fahnen des Nationalismus. Dieses Geschehen wurde ergänzt bis ins 20.Jahrhundert hinein durch die Eroberung zahlreicher Kolonien ausserhalb Europas, welche ebenfalls unter den Fahnen der europäischen Nationen stattfand. Dies ist auch der Grund, welshalb es für Europa heute so wichtig ist, dass sich der Staat bzw. die Staatlichkeit ganz langsam wieder vom Begriff der Nation abzulösen beginnt. Ich werde darauf zurückkommen.

Nun will ich aber auch Beispiele von solchen Rückfällen aus der Gegenwart erwähnen. Was ist die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Europa anderes als ein partikulares Denken in «Wir und die Andern» ? Das selbe gilt für den Rassismus oder für rechtsextreme Gewaltexzesse. Wahlkampfparolen wie «Oesterreich zuerst» oder «Dänemark zuerst» , oder wie sie alle tönen mögen, solche Wahlkampfparolen illustrieren mit schrecklicher Deutlichkeit dieses «Wir und die Andern» . Auch die Europafeindlichkeit der Schweiz gehört in dieses Kapitel. Die entsetzlichste Erscheinungsform des partikularen Denkens in Kategorien von «Wir und die Andern» war während des letzten Jahrzehnts auf dem Balkan zu beobachten. Die Kriege im Balkan waren bekanntlich keine Religionskriege, sondern Religion wurde nur dazu missbraucht, die nationalistischen Hassparolen zu verstärken. Die Balkankriege haben gezeigt, was die letzte Konsequenz des partikularen Denkens ist: Es gibt einen Moment in diesem Denken, in welchem die Sache kippt und die «Andern» neben dem «Wir» plötzlich keinen Platz mehr haben. Die «Andern» sind dann plötzlich so anders, dass sie gar nicht mehr als Menschen mit der ihnen eigenen Würde betrachtet werden, sie werden gleichsam auf ihr Anderssein reduziert. Das partikulare Denken schliesst von diesem Moment an das universale Denken aus, der Andere wird zum Nicht-Menschen. Die letzte Konsequenz der partikularen Denkweise sind – wenn ich dieses schreckliche Wort hier aussprechen kann – sind «ethnische Säuberungen» .

Ich möchte noch eine Abgrenzungen machen: Manchmal ist die Rede von der «Anerkennung» der Anderen. Mit diesem Begriff habe ich grosse Mühe, weil er auch etwas Negatives beinhaltet. Anerkennung heisst, dass ich einseitig einen Akt vornehme, ich anerkenne den Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund. Braucht das der andere Mensch überhaupt? Darf er abhängig sein von der Anerkennung durch mich ? Der Begriff kommt aus einer bestimmten Vorstellung, wonach eine Gesellschaft Gruppen mit einem kulturellen Hintergrund, der nicht der Mehrheitskultur entspricht, eben «anerkennen» sollte. Und dies hat zur Folge, dass neu sich bildende Gruppen um diese Anerkennung kämpfen, sich um eine solche Anerkennung als Gruppe bemühen müssen. Dieses Gruppendenken halte ich jedenfalls für Europa aus verschiedenen Gründen nicht für sinnvoll, denn es richtet sich in letzter Konsequenz gegen das universale Denken. Kürzlich nahm ich an einem Podiumsgespräch zur Kommunikation zwischen den Religionen teil. Man hatte mich aufgrund meiner Erfahrung in Sarajevo eingeladen, als Ergänzung zu einem protestantischen, einem katholischen Theologen und einem Rabbiner. Der letztere machte genau die selben Ueberelgungen, die ich eben zum Begriff der «Anerkennung» formuliert habe, auch zum Begriff der «Toleranz» , und zwar anhand der gegenwärtigen Geschehnisse in Israel und Palästina. Er sagte in etwa, wenn die Israelis sagen würden, sie würden die Palästinenser ja durchaus tolerieren, so sei dies eine Anmassung: Da gebe es gar nichts zu tolerieren, weil Toleranz ein einseitiger Entscheid sei, den man geradesogut umgekehrt fällen könne, nämlich in Richtung Intoleranz. Und diese Möglichkeit gebe es in Israel gar nicht, denn die Palästinenser seien nun einmal in diesem Land präsent. Auch das Wort «Toleranz» kann also in ein partikulares Denken eingeordnet werden. Der Gegenbegriff wäre dann nicht «Intoleranz» , sondern die universale Denkweise, wonach jene Eigenschaften ausschlaggebend sind, welche mich mit dem anderen Menschen verbinden. Dann stellt sich die Frage der Toleranz nicht mehr. Für mich war das ein neuer Aspekt zu diesem Wort, aber ein sehr bedenkenswerter. Abschliessend zum ersten Ausgangspunkt kann ich folgendes festhalten: Ein wichtiges Element europäischer Identität ist die «universale Denkweise» , die nicht auf einzelne, partikulare Kriterien abstellt, sondern das Gemeinsame betont.

Nun möchte ich zum zweiten Ausgangspunkt für die Charakterisierung Europas kommen. Wie bereits erwähnt betrifft er die Art und Weise, wie wir in Europa mit der Moral umgehen, also mit den Wertungen, die wir ganz lapidar ausdrücken können durch die beiden Begriffe «gut» und «böse» . Auch für diesen zweiten Ausgangspunkt muss ich auf das Jahr 1648 zurückgehen, also auf den westfälischen Frieden, der die Religionskriege beendete. Damals wurde in Europa nicht nur die Religion ins private Gewissen verschoben, sondern es wurden sozusagen Recht und Moral getrennt. Während der Religionskriege hatte weitgehend Anarchie geherrscht, die Kriege waren – wie wir heute sagen würden – durch private «warlords» geführt worden, Recht und Staat waren inexistent geworden, privater Raub und Mord war an der Tagesordnung und wurden nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Darauf reagierte man mit der klaren Uebereinkunft, dass Kriege nur noch durch Staaten geführt werden dürften, und dies bedeutete praktisch den Anfang einer völkerrechtlichen Ordnung. Weiter wurde festgehalten, dass die für alle gleich geltende staatliche Rechtsordnung jedem einzelnen den Schutz von Leib und Leben garantieren sollten. Es war dies ein ganz wichtiger Moment für den Uebergang vom der partikularen zur universalen Denkweise, wie ich ihn im ersten Ausgangspunkt beschrieben habe. Von nun an garantierte der Staat jedem Einzelnen seine Sicherheit, und zwar jedem in gleicher Weise. Es handelte sich vor allem die Sicherheit von Leib und Leben – viel weiter ging das im 17. Jahrhundert nicht -, aber diese Garantie bestand unabhängig von den moralischen Ansichten der betreffenden Person. Nicht nur der tugendhafte Mensch hatte damit eine Würde als Mensch und genoss den Schutz des Staates, sondern auch der nicht tugendhafte Mensch.

Auch die strafrechtliche Verantwortlichkeit sollte nach strikt rechtlichen und nicht moralischen Kriterien gehandhabt werden: Ob der Straftäter «gut» oder «böse» ist, darf auch heute noch keine Rolle spielen. Deshalb hat in Europa die Aufklärung Recht und Moral ein für allemal getrennt. Es setze sich die Überzeugung durch, dass es nach aussen nur auf die Handlungen der einzelnen Personen ankomme. Was aber diese Personen dabei denken, ob sie den Sinn der Rechtsordnung einsähen oder nicht, dürfe keine Rolle spielen, wenn das Recht nur äusserlich befolgt werde. Die Gewissensfreiheit war so gesehen das erste Menschenrecht, das überhaupt erfunden wurde, die Religionsfreiheit war gleichsam nur eine Folge davon, nachdem die Religion ins Gewissen verschoben worden war. Insbesondere die Menschenrechte können nur Bestand haben, wenn Recht und Moral getrennt sind: Nicht nur der tugendhafte Mensch hat diese Rechte, sondern auch der Nicht-Tugendhafte – und gerade jener hat sie besonders nötig – was immer man unter «nicht-tugendhaft» verstehen mag: Auch «böse» Menschen – falls es das überhaut gibt – haben Menschenrechte !

Diesbezüglich stellen wir heute einen ganz entscheidenden Unterschied zwischen Europa und den Vereinigten Staaten fest. Diesen Unterschied gab es zwar schon immer, aber er ist erst seit dem Ende des Kalten Krieges wahrnehmbar, denn vor 1989 sah man nur die beiden grossen Blöcke und die europäische Sicherweise stand ganz im Schatten der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden. In den Vereinigten Staaten ist Recht und Moral viel weniger klar getrennt als in Europa, machmal ist es überhaupt nicht getrennt. Ich will nicht gerade sagen, die Aufklärung habe diesbezüglich jenseits des Atlantiks nicht stattgefunden, aber die Geschichte der US-amerikanischen Nation ist eine ganz andere als jene der europäischen Nationen. Dass die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten nach wie vor existiert, hat genau damit zu tun. Es besteht irgendwie – ich möchte fast sagen – «volkspsychologisch» die Notwendigkeit, das Böse, das die Straftäter verkörpern, welche einen Mord begangen haben, immer wieder auszumerzen, und das kann man ja nicht mit lebenslanger Haft.

Die Bemühungen zur Abschaffung der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten selber argumentieren fast immer ausschliesslich verfahrensrechtlich. Es wird also gesagt, die Wahrscheinlichkeit eines Justizirrtums könne nicht ausgeschlossen werden, und deshalb sei die Todesstrafe nicht zu verantworten, denn man könne sie nach der Vollstreckung ja nicht mehr korrigieren. Auf der grundsätzlichen Ebene der Menschenwürde wird sehr selten argumentiert. Seit den Terroranschlägen vom 11.September letzten Jahres sind die transatlantischen Unterschiede in diesem Bereich noch viel deutlicher geworden: Der Kampf gegen das Böse wird jetzt weltweit intensiviert. Was vor allem auch sichtbar wird, ist das von der europäischen Sichtweise abweichende Menschenrechtsverständnis: Eine universell gleiche Würde aller Menschen kennen die US-Amerikaner lediglich unter dem Vorbehalt der moralischen Qualifikation: Die Taliban- und AlKaida-Kämpfer, welche auf dem US-Stützpunkt Guantánamo in Kuba festgehalten werden, gelten als Teilnehmer an einem unmoralischen Kampf, weshalb ihre Grundrechte in der US-Oeffentlichkeit ganz selbstverständlich in Frage gestellt werden. So wurde zum Beispiel öffentlich darüber diskutiert, ob das Folterverbot auch für diese Gefangenen Geltung haben sollte oder nicht.

Damit möchte ich die Darstellung der beiden Ausgangspunkte vorläufig abschliessen und fasse die Charakterisierung europäischer Identität in diesen beiden Punkten nochmals zusammen: Europa bewegt sich in seinem Menschenbild und in seiner Vorstellung, wie die Beziehung zwischen den Menschen gedacht werden soll, auf einer Entwicklungslinie vom Partikularismus zum Universalismus, und dies ist eine Entwicklungslinien, die sich über Jahrhunderte hinzieht. Entscheidend vorangekommen ist der Universalismus seit 1945. Wichtige Voraussetzung für diese Entwicklung Europas ist die klare Trennung von Recht und Moral, welche auch über Jahrhunderte zurückzuverfolgen ist. Diese beiden Ausgangspunkte führen mich nun zu den beiden Folgerungen. Die erste betrifft den Staat oder vielmehr die Staatlichkeit, die zweite betrifft die Politik. Zunächst also zur ersten Folgerung, zur Staatlichkeit.

Wenn Frauen etwas beitragen wollen zur Zukunft Europas, dann sollten sie Sorge tragen zu dieser Staatlichkeit. Warum das, werden Sie nun vielleicht fragen. Lassen Sie mich auch hier zunächst eine Präzisierung anbringen, und zwar was die Begriffe «Staat» und «Staatlichkeit» anbelangt. Ich rede eigentlich lieber von «Staatlichkeit» als von «Staat» und zwar einfach deshalb, weil das, was ich meine, nicht nur im traditionellen Nationalstaat zu finden ist. Staatliche Kompetenzen und Staatstätigkeit verschiebt sich heute in Europa teilweise auf eine Ebene, die einen grösseren Raum umfasst als den Nationalstaat, insbesondere in der Europäischen Union. Es gibt heute auch immer mehr weltweit vereinbarte völkerrechtliche Regelungen. Diese gehören auch zu dieser Staatlichkeit, den sie werden von den Staaten vereinbart. «International» heisst ja genau genommen «interstaatlich» , das Wort «Nation» meint in diesem Bedeutungszusammenhang die Staaten. Und umgekehrt gibt es Staaten, die schon lange so organisiert sind, dass man staatliche Elemente auch auf der nächstunteren Ebene findet. Mit dem Stichwort «Subsidiarität» ist es sogar zu einer eigentlichen Zielsetzung geworden, öffentliche Aufgaben wenn immer möglich auf der untersten Ebene wahrzunehmen, auf welcher sie überhaupt sinnvoll wahrgenommen werden können. Das heisst keineswegs Privatisierung, sondern es heisst die Schaffung oder Entwicklung von Staatlichkeit in Teilstaaten der traditionellen Nationalstaaten. Beide Entwicklungen, die Ausdehnung von Staatlichkeit nach oben, wie auch jene nach unten halte ich für sehr sinnvoll. Erstens erlaubt diese Entwicklung eine sachgerechte Wahrnehmung öffentlicher Funktionen. Zwei Beispiele dazu erwähne ich aus dem selben Bereich, nämlich jenem des Umweltschutzes: Kläranlagen für Schmutzwasser sollten lokal organisiert werden, dort also, wo das Schmutzwasser effektiv zusammenläuft. Klimaschutz hingegen kann nur weltweit betrieben werden, denn das Ozonloch macht nicht Halt vor Landesgrenzen oder Kontinenten. Zweitens aber – und dies ist nicht minder wichtig – zweitens findet mit dieser Entwicklung wenn auch fast unmerklich eine andere bereits erwähnte Entwicklung statt, welche darin besteht, dass sich in Europa Staatlichkeit langsam vom Begriff der Nation ablöst.

Nur der Staat oder eben die Staatlichkeit ist in der Lage, das universale Denken der Menschwürde zu garantieren. Nur die Staatlichkeit als gesellschaftliche Grundstruktur basiert auf der existenziellen Zugehörigkeit aller Menschen. Und mit Zugehörigkeit meine ich hier etwas ganz anderes als die Staatsangehörigkeit. Ich meine nämlich die Frage, ob mich die anderen Menschen eigentlich etwas angehen oder ob sie mir egal sind. Das dies so ist, können wir uns am besten vergegenwärtigen, wenn wir nach Alternativen Ausschau halten. Was gibt es denn eigentlich noch für andere gesellschaftliche Grundstrukturen, wenn nicht die staatliche ? Sogenannte «Gottesstaaten» kennen als gesellschaftliche Grundstruktur die Religion. Ich glaube, diese Variante fällt für uns hier nicht in Betracht. Dann kann man aber auch differenzieren anhand der Mechanismen, durch welche Entscheidungen getroffen werden, und da ist heutzutage wohl die brisanteste Polarität jene zwischen staatlichen Mechanismen und Marktmechanismen. Beide haben ihre Vor- und Nachteile. Und die grösste Kunst besteht heute darin, diese beiden Mechanismen sinnvoll dort einzusetzen, wo sie je etwas bringen. Mit der Zugehörigkeit hängen die beiden Mechanismen insofern zusammen, als die staatliche Philosophie auf der Zugehörigkeit basiert, die einem schon aufgrund der eigenen Existenz zukommt, also die «existentielle» Zugehörigkeit, wie ich sie bereits genannt habe. Die Marktphilosophie beruht hingegen darauf, dass man Zugehörigkeit nur durch Leistung erlangen kann. Beides hat in verschiedenen Bereichen seine Berechtigung. Einen Lohn kann ich nur erwarten, wenn ich dafür eine Arbeitsleistung erbringe. Umgekehrt macht es keinen Sinn, von Kleinkindern, kranken Personen oder Personen im Greisenalter eine Leistung zu verlangen, wenn ihr Leben gesichert sein soll, denn sie können diese Leistung mit dem besten Willen nicht erbringen. In der heutigen Zeit ist es äusserst wichtig, die beiden Philosophien von Staat und Markt ins richtige, ausgewogene Verhältnis zueinander zu bringen. Marktmechanismen sind dort richtig, wo Leistung überhaupt erbracht werden kann. Für alle jene ausserhalb der Leistungsmöglichkeit braucht es eine staatliche Struktur. Und der Staat muss darüber hinaus auch einen rechtlichen Rahmen schaffen für das Marktgeschehen. Europa hat eine grosse Tradition in dieser Hinsicht, die man in der Regel als «soziale Marktwirtschaft» bezeichnet.

Es gibt aber neben dem Markt noch einen anderen Bereich, welchen wir der staatlichen Ordnungsstruktur gegenüberstellen können, nämlich jenen, den ich mit «Gemeinschaften» bezeichnen möchte. Mit Gemeinschaften meine ich Vereinigung aller Art, auch Religionsgemeinschaften, aber längst nicht nur diese. Ich meine Clubs, denen man beitreten kann, ich meine auch wohltätige Vereinigungen, oder was auch immer. Gemeinsam ist allen diesen Gemeinschaften, dass man ihnen beitreten muss, man muss sich für sie entscheiden, für einige muss man auch etwas leisten, für andere nicht, bei einigen gibt es klare Zulassungsbedingungen, für andere wieder nicht. Was die Zugehörigkeit anbelangt, ist das entscheidende Merkmal, dass alle diese Gemeinschaften die existentielle Zugehörigkeit nicht kennen, und dies eben gerade deshalb, weil sie nicht-staatlich sind. Solche Gemeinschaften können gewisse Funktionen ausüben, für die sie sich eignen. Als gesellschaftliche Grundstruktur sind sie aber in europäischen Verhältnissen ungeeignet, weil sie die existentielle Zugehörigkeit und das universale Denken der allen gleichen Menschenwürde nicht garantieren können. Für die Gewährung und die aktive Garantie der Menschenrechte kann nur der Staat verantwortlich zeichnen, der diesbezüglich in Europa der internationalen Staatengemeinschaft verantwortlich ist, und dies vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Vor allem für die gleiche Gewährung der Menschenrechte gegenüber allen Menschen kann nur der Staat einstehen. Diese Philosophie ist ist ein wichtiger Teil der europäischen Identität.

Fragen wir nun, wie das mit den Frauen zusammenhängt, so wird es vorübergehend etwas heikel. Wir wissen ja alle sehr genau, wie sich die Männer im Patriarchat die Arbeitsteilung zwischen den Geschechtern vorstellen und sie weitgehend auch immer noch durchsetzen: In der Welt der Männer dominiert die Oekonomie, in der Welt der Frauen dominiert die Zuwendung, die man anderen Menschen entgegenbringt, insbesondere auch Kindern, kranken und alten Menschen. Oder wenn wir es noch etwas drastischer ausdrücken wollen: Männer sind im Patriarchat zuständig für Geld, Erwerb und Besitz, Frauen sind im Patriarchat zuständig für die Liebe. Was unsere gelegentlich stattfindende Liebe zu einzelnen Männern anbelangt, möchte ich die diesbezüglichen vielfältigen Erfahrungen einmal ausklammern und vielleicht lediglich erwähnen, dass – auch wenn der Himmel voller Geigen hängt – Frauen meistens sehr viel mehr zum langfristigen Gelingen dieser Sphärenmusik beitragen als Männer. Auch diesbezüglich hat das Patriarchat mit seiner Arbeitszuweisung geschickt und für den männlichen Teil der Menschheit durchaus gewinnbringend agiert. Ich möchte hier jedoch vielmehr von jener Zuwendung reden, welche weniger leistungsfähigen Menschen entgegengebracht wird. Auch diese Form der Zuwendung kann man durchaus mit dem Begriff «Liebe» bezeichnen, die Religion nennt das «Nächstenliebe» . Diese Form der Zuwendung leisten immer noch und überall fast ausschliesslich wir Frauen.

Warum akzeptieren wir eigentlich diesen uns vom Patriarchat zugewisenen Teil ? Ganz einfach deshalb, weil die Menschheit diese Zuwendung braucht, und weil das Gros der Männer nicht bereit ist, diese Zuwendung aufzubringen. Ob sie es nicht wollen oder ob sie es nicht können, kommt auf das selbe heraus: Je nach Blickwinkel sind sie Nutzniesser oder Geschädigte der patriarchalen Arbeitsteilung. Sie müssen oder wollen sich zuerst einmal um das Geld kümmern, um Erwerb und Besitz, und da gibt es Zugehörigkeit nur durch Leistung. Im andern Bereich, in jenem der Zuwendung, da gibt es existentielle Zugehörigkeit, da kann man sich gehen lassen, da wird man versorgt, auch wenn man schwach ist, Kind ist, krank oder alt ist. Natürlich habe ich die beiden Welten ein wenig überzeichnet, und dies mit Absicht. Aber ich glaube doch behaupten zu dürfen, dass Fauen jedenfalls durchschnittlich betrachtet die Philosophie der existentielle Zugehörigkeit viel näher liegt als Männern, wenn man die männliche Gesamtheit ebenfalls durchschnittlich betrachtet. Naturgegeben ist das wahrscheinlich nicht, sondern einfach sozialisierungsbedingt: Die patriarchale Arbeitsteilung ist immerhin schon viertausend Jahre alt, und so etwas schlägt sich dann halt nieder. Sie merken, worauf ich hinaus will: Sieht man die Sache unter diesem Blickwinkel an, so ist Europa eigentlich schon lange auch ein Frauenprojekt. Es wird das aber nur bleiben können, wenn Staaten und die Staatlichkeit an sich ihren Stellenwert in Europa behalten. Deshalb komme ich zu einer überzeugten ersten Schlussfolgerung: Wenn Frauen beitragen wollen zum künftigen Europa, einem Europa, das in ihrem Sinne funktioniert, sollten sie nicht vergessen, auch zur Staatlichkeit als solcher Sorge zu tragen.

Und nun zum zweiten Punkt, zur zweiten Folgerung, welche – wie ich bereits erwähnt habe – die Politik betrifft. Wenn Frauen etwas beitragen wollen zur Zukunft Europas, dann sollten sie Sorge tragen zur Politk. Hier wohl noch intensiver als bei der ersten Folgerung werden Sie fragen, warum denn das. Was ist Politik ? Ich will Ihnen nicht eine wissenschaftliche Definition dieses Begriffes geben. Aber ich möchte nun einmal behaupten, dass man unter «Politik» all das verstehen kann, was es braucht, um die Geschäfte des Staates zu betreiben. Politik ist nicht nur die Wahl der Parlamente, die Diskussion über Parteiprogramme und die Tätigkeit der Legislativen und der Regierungen. Politik ist auch die öffentliche Diskussion über die Gesetzgebung, Politik ist auch die Kontrolle der Verwaltungstätigkeit, die Wahl von Richtern, Politik ist das Zeitungslesen, das Verfolgen öffentlicher Diskussionen, Politik ist das Interesse an allem, was das Gemeinwesen betrifft, an allem was die öffentliche Hand betrifft, auf eine kurze Formel gebracht: Politik ist das Interesse an der Staatlichkeit. Oder: Politik ist die staatspolitische Identität des oder der Einzelnen. Wenn Staatlichkeit verschwindet, verschwindet auch die Politik. Machen wir uns diesbezüglich nichts vor: Diese Entwicklung ist auch in Europa im Gange. Es ist Mode geworden, die Politik zu verteufeln, die Parlamente geringzuschätzen, oder gar zu verachten. Peter Glotz hat es kürzlich so ausgedrückt: «Wenn einer gut, jung und links ist, geht er eher zu Greenpeace als zur SPD. Wenn einer gut, jung und (halb-)rechts ist, geht er eher zu BMW als zur CDU. In den sechziger Jahren wollten die besten jungen Leute Kennedy, Brandt oder Dag Hammarksjöld nacheifern. Inzwischen träumen sie davon, wie Jack Welch, Steve Case, Rainer E.Gut oder Joe Ackermann zu werden.» (2) Staatspolitische Identität wird ersetzt durch ökonomische Identität. Dies bedeutet, dass die Philosophie der existentiellen Zugehörigkeit ersetzt wird durch die Philosophie der Zugehörigkeit durch Leistung. Das Patriarchat schlägt wieder einmal gewaltig zu: es verengt den Spielraum für die Wertvorstellungen, welche es den Frauen zugewiesen hat, und es erweitert dafür den Spielraum für jene Wertvorstellungen, die es den Männern zugewiesen hat.

Bei diesem Vorgang passiert nun aber darüber hinaus etwas äusserst interessantes: Wenn man staatspolitische Identität durch ökonomische Identität ersetzt, so beginnt in der Gesellschaft begreiflicherweise etwas zu fehlen: Nur mit der den Männern zugewiesenen Oekonomie geht es nicht, es braucht auch noch die den Frauen zugewiesene Zuwendung. Diese ergab sich in Europa bisher aus der Philosophie der existentiellen Zugehörigkeit, welche in der Staatlichkeit verankert ist. Wenn nun die staatspolitische Identität verschwindet, dann muss die Zuwendung in einer anderen Struktur verankert werden, und dies sind nun die vielen Gemeinschaften, die sich zu einer neuen Ordnungsstruktur zusammenfügen. Die Staatlichkeit, die bisher einen Rahmen darstellt sowohl für die Oekonomie als auch für die Zuwendung, wird zurückgedrängt, die Oekonomie wird vom staatlichen Rahmen befreit, und die Zuwendung wird von der staatlichen Ordnungsstruktur in eine Ordnungsstruktur der Gemeinschaften verschoben. Gemeinschaften stützen sich jedoch nicht auf eine Philosophie der existentiellen Zugehörigkeit ab, sie sind nicht universal, sondern sie sind partikular, darum sind es eben Gemeinschaften, welche Menschen freier Wahl aufgrund bestimmter Kriterien zusammenführen. Das zweite Kriterium führt somit auch wieder wenigstens teilweise auf das erste Kriterium zurück, nämlich auf das «Wir und die Andern» . Gemeinschaften muss man beitreten oder man muss in sie aufgenommen werden, man muss gleichsam ein Bekenntnis ablegen, dass man dazugehören will.

Mit anderen Worten: Diese Zugehörigkeit qualifiziert sich auch moralisch. Nur jene, die bewiesen haben, dass sie sich um die Zugehörigkeit bemühen, gehören wirklich dazu. Das ist nicht mehr die Philosophie der existentiellen Zugehörigkeit, wie sie der europäische verstandenen Staatlichkeit zugrundeliegt, sondern das ist patikulares Denken in «Wir und die Andern» . Die Gemeinschafts-Ideologie, die nach der Vorstellung gewisser Kreise auch in Europa an die Stelle der Staatlichkeit treten soll, ist Partikularismus und verdrängt den Universalismus aus dem Denken und aus dem Menschenbild. Die Aufteilung der Menschen in solche, die der Zugehörigkeit würdig sind, weil sie sich darum bemühen, und in solche die der Zugehörigkeit nicht würdig sind, weil sie sich nicht ordentlich darum bemühen, diese Aufteilung ist mit der universellen gleichen Würde aller Menschen unvereinbar. Es ist letztlich wiederum die selbe moralische Einteilung in «gut» und «böse» . Würde in Europa die staatpolitische Identität durch eine «Gemeinschafts» -Identität ersetzt, so bedeutete dies einen Rückfall hinter das Zeitalter der Aufklärung im Sinne einer «Remoralisierung"

Heute ist ganz generell eine solche Remoralisierung vieler Lebensgebiete zu beobachten, welche ich für sehr gefährlich halte, weil sie letztlich die Menschenrechte aus den Angeln hebt. Kurt Imhof hat kürzlich den Einzug der Moral in Politik und Wirtschaft analysiert, insbesondere den Mechanismus der «Empörung» , der gezielt eingesetzt wird. Er spricht von «Empörungskommunikation» und noch viel entlarvender von «Empörungsbewirtschaftung» . (3) Zurückgeführt werden diese Vorgänge auf die zunehmende Deregulierung: Auf den Schutz durch die Rechtsordnung kann oder will man sich immer weniger verlassen. Stattdessen kann man sich auf die Empörungswellen verlassen. Moral fliesst direkt in die gesellschaftlichen Vorgänge ein, nicht mehr über den Vorgang der Gesetzgebung in die langfristig gültige Rechtsordnung. Der Philosophieprofessor und Theologe Richard Schröder – nicht zu verwechseln mit dem deutschen Bundeskanzler – stellt die Frage, ob die heute aufkommende gesellschaftliche Moral nicht die Politik verderbe, also mit anderen Worten die Politik verunmögliche. Er meint, dass sich die Bürger dadurch von der Politik abkoppeln, dass sie von den Politkern eine höhere Moral als von sich selber verlangen würden – daher die unzähligen Skandale und Skandälchen über fiannzielle Ungereimtheiten, die aber bei Nicht-Politkern gang und gäbe seien und allenfalls als Kavaliersdelikte gelten würden. Richard Schröder will damit die Ungereimtheiten natürlich nicht rechtfertigen, sondern er greift in der Frage von Politik und Moral tiefer und spricht von einer gefährlichen Infantilisierung der Politk. (4) Nicht wahr, es macht sich heute in vielen Kreisen gut, so lässig hinzuwerfen, mit Politik wolle man dann schon gar nichts zu tun haben, und mit Politikerinnen und Politikern schon gar nicht. All dies ist für Europa besonders gefährlich, weil dadurch die jahrhundertealten Grundmauern europäischer Identität erschüttert werden. Wenn Recht durch Moral ersetzt wird, wird Politik durch Religion ersetzt. Und wenn Politik durch Religion ersetzt wird, dann wird Vernunft durch Glauben ersetzt. Wie gefährlich das alles ist, haben uns die Balkankriege wieder neu vor Augen geführt. Die geschilderten Entwicklungen haben alle eines gemeinsam: Sie führen Europa auf seinem langen Weg vom Partikularismus zum Universalismus, den es seit 1648 trotz aller Rückschritte immer wieder vorangeht, einmal mehr retour, vom Universalen zurück zum Partikularen.

Politik ist in Europa immer noch genau der Ort, wo über Moralvorstellungen diskutiert wird und darüber, was gerecht ist, und was dementsprechend für alle gelten soll. Das Resultat fliesst in die Gesetzgebung ein, und diese gilt für alle Menschen genau gleich, unabhängig von moralischen Kriterien. Ich bin heute überzeugt, dass es für Europa nicht nur wichtig ist, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung sehr genau zu analysieren. Darüber hinaus und in einer noch viel grundlegenderen Weise ist es für diesen Kontinent überlebenswichtig, seine Identität zu benennen, was die Rolle der Staatlichkeit und der Politik sowie die Funktion von Recht und Moral anbelangt. Und was insbesondere die Frauen betrifft, ist meine zweite Schlussfolgerung deshalb nicht weniger überzeugt als die erste: Wenn Frauen beitragen wollen zum künftigen Europa, einem Europa, das in ihrem Sinne funktioniert, sollten sie nicht vergessen, auch zur Politik als solcher Sorge zu tragen.

In diesem Zusammenhang möchte ich nun noch einen letzten Gedanken beifügen: Wir kennen doch alle die Entwicklung, dass gewisse Berufe plötzlich von Männerberufen zu Frauenberufen werden. In vielen Ländern geschah dies mit dem Lehrerberuf, jedenfalls auf der Volksschulstufe. In anderen Ländern geschah oder geschieht es mit dem Arztberuf. Hintergrund für solche Entwicklungn sind Veränderungen des Sozialprestiges, der Lohnstruktruen, der beruflichen Belastung und anderes mehr. Kurzgefasst: Wenn ein Beruf unatraktiver wird, scheinen ihn die Männer den Frauen zu überlassen, um sich attraktiveren Dingen zuzuwenden. Ich weiss nicht, ob die Politik auch auf diesem Wege ist. Ich weiss nicht einmal, ob – wenn dem so wäre – ich das für gut oder schlecht halten sollte. Ich weiss nur, dass man – oder frau – in bestimmten historischen Situationen ein Dikriminierungsphänomen in sein Gegenteil verkehren kann. Jedenfalls würde ich es nicht für gefährlich halten, wenn Politik in Europa unversehens zu einer Frauenangelegenheit werden würde.

Was ich hingegen sehr genau weiss, ist folgendes: Kriege werden fast immer oder praktisch immer von Männern organisiert, auch wenn sie Frauen dazu missbrauchen, Emotionen zu schüren. Und was ich auch sehr genau weiss, ist, dass Westeuropa dank dem konsequenten Voranschreiten vom Partikularismus zum Universalismus eine Friedensordnung geschaffen hat, die sich bislang als tragfährig erweist. Auch insofern ist Europa ein Frauenprojekt. Europa besteht heute sowohl aus West- als auch aus Mittelosteuropa, die beiden Teile wachsen langsam wieder zusammen. Die Friedensordnung kann nur auf diesen ganzen Raum ausgreifen, wenn alle Europäerinnen und Europäer, sowohl jene in Mittelost- als auch jene in Westeuropa ihre staatspolitische Identität pflegen und dadurch zur universalen, gleichen Würde aller Menschen beitragen. Ich möchte schliessen mit einem Zitat des Philosophie-Professors Wolfgang Kersting. Ich habe das Zitat meinem schriftlichen Referat vorangestellt, aber hier im mündlichen Vortrag macht es erst jetzt Sinn: «Erst der Staat erlaubt es uns, Person zu sein; das ist die personentheoretische Pointe des Friedens. Im Krieg herrscht das Diktat der Gegenwart, unter dem sich das Leben in eine Sequenz von immer gleichen Selbsterhaltungsepisoden auflöst. Politik bricht das Diktat der Gegenwart, schafft Zukunft, erlaubt differenzierte Lebensplanung. Nur im Frieden vermag die persönliche Identitätsbildung zu florieren, nur der Frieden gibt der Selbstbestimmung eine Chance und erlaubt den Menschen, ein Leben als Person zu führen.» Und persönlich möchte ich beifügen: Nur die Staatlichkeit und eine staatspolitische Identität können den Frieden garantieren.

1) Wolfgang Kersting: «Politik und Recht. Abhandlungen zur politischen Philosophie der Gegenwart und zur neuzeitlichen Rechtsphilosophie, Wilerswist 2000, S. 137

2) Peter Glotz: «Dein Abgeordneter, der arme Schlucker. Die Politiker müssen besser bezahlt werden. Sonst verlieren sie gegenüber der Wirtschaft weiter an Macht und Ansehen» , in «Die Zeit» vom 18.7.2002.

3) Kurt Imhof: «Der hohe Preis der Moral» , in «Neue Zürcher Zeitung» vom 7.6.2002

4) Richard Schröder: «Das Volk hat die Politiker, die es verdient. Gross ist die Empörung über jede neue Korruptionsaffäre. Aber mit welchem Recht empören wir uns eigentlich ?» , in «Die Zeit» vom 25.7.2002