Gret Haller
Zeithorizonte um Europa
Festansprache zur Eröffnung des Museums Neuhaus Biel am 25. November 1995

Das Europa von heute ist nicht mehr zu vergleichen mit dem Europa vor 1989. Als symbolisches Ereignis haben wir alle immer noch den Fall der Berliner Mauer vor Augen, doch dieses Ereignis hat sich viel früher angebahnt, in Moskau, aber auch seit 1975 im Prozess der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE, heute OSZE. Wir haben sie alle erlebt, diese Abhängigkeit Europas zwischen den beiden Grossmachtblöcken UdSSR und USA. Schon bald wird eine Generation aufwachsen, der wir werden erzählen müssen wie das damals war.

Europa hatte vom zweiten Weltkrieg bis 1989 keine eigene Identität. Europas Verhältnis zur übrigen Welt war irgendwie suspendiert. Was die militärische Sicherheit anbelangte, lag das Schicksal des Kontinents bei den Grossmächten: Mittel- und Osteuropa befand sich im Einflussbereich und unter der totalitären Kontrolle Moskaus, Westeuropa zählte auf die NATO. Aber in diesem weltpolitischen Abgemeldet sein vollzog sich im Innern Europas etwas entscheidend wichtiges: Nach den Entsetzlichkeiten des letzten Krieges war der politische Wille, Kriege zwischen den Erzfeinden Frankreich und Deutschland ein für allemal zu vermeiden, so stark geworden, dass man in Westeuropa daran ging, den Nationalstaat zu relativieren. Nachdem eine Verteidigungsgemeinschaft zunächst gescheitert war, beschritt man den erfolgreicheren Weg der wirtschaftlichen Einheit, und seit Maastricht wissen wir, dass dieser Prozess weitergehen und zunehmend auch die Aussen- und Sicherheitspolitik sowie demokratische Strukturen einbeziehen wird. Hier sehen wir ein Phänomen des Zeithorizontes: Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg war die Zeit offensichtlich nicht reif für eine Verteidigungsgemeinschaft. Wenn wir heute die Diskussionen um Einsätze europäischer Staaten in Ex-Jugoslawien verfolgen, so sehen wir neue Ansatzpunkte. Dinge lassen sich nur verwirklichen, wenn die Zeit dafür reif ist. Und so lange die Zeit nicht reif ist, muss man geduldig, eventuell auf manchen Umwegen, darauf hinarbeiten.

Mit den Ereignissen um 1989 hat sich fast alles verändert. Mit einemmal ist uns bewusst geworden, dass das, was wir vorher für Europa hielten, nur ein Teil Europas war. Aber wir sind auch mit neuen Phänomenen konfrontiert, und zwar genau in jenem Bereich, in welchem Westeuropa seit dem Krieg einen entscheidenden Schritt weitergekommen ist. Ich meine die Bedeutung des Nationalstaates.

Während in Westeuropa die Tendenz dahin geht, nationalstaatliche Grenzen abbzubauen oder zu mildern, ist in Mittel- und Osteuropa zum Teil die Tendenz festzustellen, den Nationalstaat zu überwerten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Allzulange haben die Völker in diesem Teil Europas unter totalitärem Druck ihre Zugehörigkeit zu einem Staat oder einer Volksgruppe nicht bekennen dürfen. Die Situation ist aber noch komplizierter: Im Wegfallen des totalitären Druckes bricht nicht nur der Wunsch auf, einen eigenen Staat zu haben, sondern auch die verhängnisvolle Bestrebung, dass Personen gleicher ethnischer Herkunft in einem eigenen Staat leben wollen, womit wir bei der Vorstellung von der «ethnischer Sauberkeit» sind – ein entsetzliches Wort! Und vor unseren Augen steigen die Bilder des Grauens im Krieg von Bosnien auf, die eine Folge dieses Denkens sind.

In Westeuropa die sachten Anfänge der Relativierung des Nationalstaates, in Südost- und Osteuropa zum Teil eine Uebersteigerung des Nationalstaates – wie will Europa mit diesem Widerspruch fertig werden ?

Wenn wir uns die Eigenart Europas bewusst zu machen versuchen, so stossen wir immer wieder auf die Vielfalt. Wenn wir als Kinder einen Globus in den Händen hielten, so war es immer leicht, unseren eigenen Standort zu finden. Er befand sich dort, wo auf dem Erdball gleichsam ein Flickenteppich vieler kleiner und kleinster Staaten zu finden war. Und es ist nicht nur eine staatliche Vielfalt, sondern effektiv auch eine kulturelle: Die Staaten und sogar die noch kleinteiligeren Regionen haben efektiv ganz unterschiedliche kulturelle Identitäten. Dies unterscheidet unseren Kontinent ganz massgeblich von den anderen Kontinenten. Es ist jedoch nicht nur dieses Element der räumlichen Kleinteiligkeit, die Europa von den anderen unterscheidet, es ist auch ein zeitliches Element der Vielfalt. In der langen Geschichte Europas, von welcher man nie genau weiss, wann und wie sie anfängt, hat immer wieder Neues das Alte verdrängt und neue Synthesen entstehen lassen. Oder anders gesagt: Wenn dieses Europa zu einheitlich zu werden drohte, dann hat es sich immer wieder aufgeteilt, wie wenn es gewusst hätte, dass seine letzte Eigenart immer die Vielfalt und damit der Widerspruch ist. Ich nenne als Beispiel nur die Aufspaltung des römischen Reiches in Ost und West, 600 Jahre später die Spaltung der Christenheit in katholisch und orthodox, ein Gegensatz übrigens, von dem ich überzeugt bin, dass er uns noch beschäftigen wird, wenn Europa wirklich zu einem Ganzen zusammenwachsen wird. Später dann die Nord-Süd-Spaltung durch die Reformation, um nur einige zu nennen.

Immer wieder entstanden auf diesem Kontinent neue Wiedersprüche, oder wurden sie von aussen importiert, wobei letzteres für die Identität Europas nicht zu unterschätzen ist: Die antike griechische Kultur, die das römische Reich weitgehend prägte, hatte ihre Wurzeln stark auch in Kleinasien. Niemand wird abstreiten wollen, dass das Christentum in seinen Anfängen ebenfalls aus dem vorderen Orient nach Europa kam. Die Barbareneinfälle aus dem Osten gegen Ende des römischen Reiches brachten Menschen nach Europa, die ihren Einfluss nahmen. Und dass der Islam durchaus gegen den Willen der damaligen Europäer recht lange auf dem europäischen Kontinent weilte und ganz entscheidend zur Entwicklung insbesondere der Wissenschaft beitrug, ist ein Umstand, den wir heute gerne vergessen, und dessen Bewusstmachung vielleicht etwas beitragen könnte zum Verständnis der Probleme um den fundamentalistischen Islamismus.

Die letztliche Identität Europas war immer jene eines Gefässes, in welches neue Dinge, Strömungen oder Menschen hinzukommen, in welchem es zu Widerspüchen und Auseinandersetzungen kommt, und aus dem schliesslich immer wieder Neues hervorgeht. Und, was in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist: Trotz oder gerade wegen der Kleinteiligkeit auf der geografischen Karte gab es immer eine gesamteuropäische Identität: Ob ein Gelehrter oder ein Künstler im ausgehenden Mittelalter oder auch später bis zum Entstehen der Nationalstaaten am Hofe eines französischen Königs, eines italienischen Adligen oder eines deutschen Fürsten wirkte, oder ob er von einem zum anderen zog, hatte auf das, was er dachte, schrieb oder entwarf, praktische keinen Einfluss. Die Kultur war wirklich eine europäische, und das ist auch heute noch so.

Etwas Weiteres kennzeichnet dieses Europa, und zwar ist es etwas nur zum Teil Ruhmreiches: Seit der Renaissance und der Entdeckung der anderen Erdteile hat Europa seine älteren und neuesten Erkenntnisse immer exportiert beziehungsweise der übrigen Welt aufgezwungen. Es hat die technischen Erkenntnisse der Industrialisierung exportiert, es hat seine Gesellschaftsformen exportiert, es hat auch die in Europa erfundene Idee des Nationalstaates exportiert, nicht zu vergessen den Export des Christentums, und dies alles zum Teil mit grausamen Methoden, die bis zum Völkermord gingen. Alles was aus Europa kam, hat sich durchgesetzt. Oder andersherum gesagt: Alles, was sich letztlich durchsetzte, kam aus Europa. Dass heute einer der seinerzeitigen europäischen Ableger, nämlich Nordamerika und insbesondere die Vereinigten Staaten zweifellos daran sind, das alte Europa in diesem ein wenig missionarischen Tun zu übertreffen, hindert nichts an der Tatsache, dass im Guten und im Schlechten wirklich Neues immer von Europa ausgegangen ist.

Und gerade in diesem Zusammenhang möchte ich nun wieder anknüpfen an die mangelnde Identität Europas vom zweiten Weltkrieg bis ums Jahr 1989. In dieser Zeit, in welcher Europa auf sich selbst zurückgeworfen war, eingeklemmt gleichsam zwischen den Grossmächten und abhängig von deren Kräftespiel, in dieser Zeit hat Europa vielleicht wieder eine entscheidende Wandlung durchgemacht, und zwar eine, die es nicht durchgemacht hätte, wenn es im Rampenlicht der Weltgeschichte hätte aktiver sein können. Europa hat sich in seinem westlichen Teil entschieden, keinen Krieg mehr zu wollen, und es hat dazu Stukturen geschaffen, die permanent weiterentwickelt worden sind. Bei allen temporären Rückschlägen ist die Entwicklung trotz allem stetig vorangegangen. Und der östliche Teil von Europa hat am Schluss dieser Zeitspanne etwas ganz grossartiges geleistet, das man nie für möglich gehalten hätte: Totalitäre Strukturen wurden praktisch gewaltlos liquidiert. Erst die fundiert recherchierte Geschichtsschreibung wird sagen können, ob die relative Gewaltfreiheit in der mittel- und osteuropäischen Befreiung von dem inspiriert oder beeinflusst war, was in der Zwischenzeit in Westeuropa geschah. Ausgeschlossen ist dies jedenfalls nicht. Und auch hier wieder das Element des Zeithorizontes: Dinge lassen sich nur verwirklichen, wenn die Zeit dafür reif ist. So lange die Zeit nicht reif ist, muss man geduldig, eventuell auf manchen Umwegen, darauf hinarbeiten. Die Dissidenten und die Menschenrechtsbewegungen in Mittel- und Osteuropa sind für diesen Vorgang ein grossartiges Beispiel. Uebrigens: Als die Zeit reif war für den Umbruch, waren wir da nicht alle überascht zu sehen, dass sie bereits reif geworden war ?

Nachdem ich ziemlich eingehend Ueberlegungen am Horizont der untergehenden Sonne angestellt habe, also im Historischen, möchte ich mich nun doch dem Horizont der aufgehenden Sonne zuwenden. Es könnte ja sein, dass Neues weiterhin von Europa ausgeht. Sicher ist es nicht, aber es könnte sein. Dieses neueste Neue wäre effektiv etwas, das Europa immer gekennzeichnet hat, aber es erschiene in einer neuen Form. Was meine ich damit ? Die Vielfalt und der Widerspruch haben Europa immer gekennzeichnet. Auf intellektueller Ebene führte dies zu allerhand Disputen, die sehr nützlich waren und es auch weiterhin sein werden. Sobald aber ein Teil dieser Vielfalt einen Absolutheitsanspruch stellte, wurde die Sache gewalttätig. Religiöse Machtansprüche setzten den Dreissigjährigen Krieg in Gang, und später führten nationale Machtansprüche in ihrer Absolutheit zu den zahlreichen Kriegen, deren Opfer mit der Zeit immer zahlreicher wurden. Kriegerische Handlungen waren es denn auch immer, die die Vielfalt, ohne die Europa nicht atmen kann, wiederherstellten und die Austragung von Wiedersprüchen wieder auf eine konstruktive Ebene hoben. Ich denke zum Beispiel an die Siege der Aliierten am Ende des zweiten Weltkrieges.

Wenn nun das in den vergangenen 50 Jahren erfundene Neue darin bestehen würde, dass Methoden gefunden worden sind, mit welchen die Vielfalt und die konstruktive Austragung von Widersprüchen garantiert werden kann, und zwar ohne das Abgleiten in Gewaltanwendung ? Ich meine hier durchaus die Vielfalt von Staaten – und zwar von Staaten verschiedener Grösse – , die Vielfalt von Religionen, die Vielfalt von Sprachen und Kulturen, ich möchte sagen die Vielfalt der Erscheinungsformen des Lebendigen überhaupt. Die Basis dafür liegt bei den einzelnen Menschen, zum Beispiel bei Franzosen, die die Deutschen nicht mehr hassen, und bei Deutschen, die die Franzosen nicht mehr hassen. Ein weiteres Element liegt bei den politisch Verantwortlichen, die solche Gefühle bewusst nicht mehr schüren. Aber ich möchte noch konkreter werden: Ist das, was in Wien in der OSZE, in Strassburg im Europarat, vor allem aber – und das sei mit Nachdruck betont – vor allem aber in Brüssel in der Europäischen Union passiert, ist das alles nicht Tag für Tag ein intensives Arbeiten an Formen, welche die Vielfalt und die konstruktive Austragung von Widersprüchen garantien sollen und zwar ohne das Abgleiten in Gewaltanwendung ?

So, wie ich die Frage jetzt gestellt habe, kann ich sie klar mit Ja beantworten. Ob Europa wirklich einen Quantensprung gemacht hat, diese Frage wage ich noch nicht zu beantworten. Ich weiss nur, dass es sich lohnt, daran und dafür zu arbeiten, und zwar auf den Tag hin, in welchem die Zeit für die Sichtbarkeit dieses Quantensprunges reif ist. Sicher ist jedenfalls, dass Europa in den letzten 50 Jahren davon abgekommen ist, dem Rest der Welt seine Neuerungen mit Gewalt aufzwingen zu wollen. Fast möchte ich dies etwas salopp so ausdrücken, dass sich die Erkenntnisse in den inneren Abläufen gleichsam auch auf die Verkaufsstrategie nach aussen ausgewirkt haben. Mit einigem Recht kann man nun einwenden, die Agressivität hätte sich nun eben in den Bereich der Wirtschaft verlagert. Aber bitte, da möchte ich die Gegenfrage stellten: Was ist schon das Ringen um Marktanteile vergliechen mit blutigen, kriegerischen Auseinandersetzungen und dem unermesslichen Leiden für die betroffene Bevölkerung ?

Eine andere Frage, die ich eingangs gestellt habe, ist noch nicht beantwortet, nämlich jene, ob Europa mit dem Widerspruch werde leben können, dass in seinem westlichen Teil die nationalstaatlichen Grenzen relativiert werden, während im östlichen und insbesondere südöstlichen Teil nationalistische Vorstellungen immer wieder zu Gewaltanwendungen oder Vorstufen davon führen. Dazu würde ich meinen, dass Europa damit leben muss. Es ist einer dieser Wiedersprüche, die nur um so mehr dazu herausfordern, an diesem Quantensprung zu arbeiten. Westeuropa hat das Wissen und die Erfahrung, wie solche falsch verstandene Nationalstaatlichkeit überwunden werden kann.

Ich komme zum Schluss. Und da werden Sie mich vielleicht fragen, warum ich nicht über die Schweiz gesprochen hätte. So, wie ich Europa darzustellen versucht habe, dürfte es sehr klar sein, wie ich die Schweiz in diesem Europa sehe. Sie ist ein Europa im Kleinen, mit der Vielfalt, mit den Widersprüchen, mit den Mechanismen der konstruktiven und gewaltfreien Austragung der Widersprüche. Eine Gemeinschaft oder auch eine einzelne Person, die so strukturiert ist, kann nicht nur, sondern muss geradezu immer wieder Neues hervorbringen. Diese Einsicht tröstet mich immer wieder. Und sollten Sie mich nach dem konkreten Weg der Schweiz nach Europa fragen, so möchte ich den Satz nochmals zitieren, den ich wiederholt verwendet habe: Dinge lassen sich nur verwirklichen, wenn die Zeit dafür reif ist. So lange die Zeit nicht reif ist, muss man geduldig, eventuell auf manchen Umwegen, darauf hinarbeiten. Wer weiss, vielleicht werden wir auch diesbezüglich nach gelduldiger Arbeit und nach manchen Umwegen plötzlich überrascht sein zu sehen, dass die Zeit reif geworden ist.