Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion
Das Buch von Frau Gret Haller über die « Grenzen der Solidarität » ist im Sommer 2002 im Aufbau-Verlag Berlin erschienen. Es ist ein zum Nachdenken stimmendes Buch über ein wichtiges, sowohl aktuelles als auch zukunftsträchtiges Thema : die Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika und die sich offensichtlich verschärfenden transatlantischen Divergenzen. Sichworte : Terrorismusbekämpfung nach dem 11.9.01, die Kriegsdrohung gegen den Irak, der problematische Umgang mit Menschenrechten, ihre politische Instrumentalisierung und die Ablehnung des Internationalen Strafgerichtshofes durch die USA, die Todesstrafe, die über den innerstaatlichen Rahmen hinausgreifende Rechtsdurchsetzung zB durch Sammelklagen, usw.
Anstoss zu diesem Buch waren persönliche Beobachtungen und praktische Erfahrungen, welche Frau Haller von 1996 bis 2000 in Bosnien und Herzegowina in einem internationalen Umfeld als von der OSZE bestellte Ombudsfrau für Menschenrechtsbeschwerden bei der Umsetzung des US-gesponserten Dayton-Abkommens machen konnte. In dieser Phase hatte ich die Gelegenheit, in meiner Stellung im Generalsekretariat des Europarats Frau Haller helfend beizustehen, neben unsern eigenen Mühen beim Aufbau der auch im Dayton-Abkommen vorgesehenen Menschenrechtskammer, dem paritätisch besetzten obersten Gericht des Landes in Menschenrechtsfragen. Ihre Eindrücke und Irritationen im Umgang mit ethno-nationalistischen Mustern im Rechts-, Staats- und Politikdenken und der politischen Instrumentalisierung ethnischer Gegensätze und, auf der andern Seite, mit der Konzeptlosigkeit von manchen im Lande tätigen Internationalen und wenig hilfreichen US-amerikanischen Einflussnahmen, hat Frau Haller nach ihrem Einsatz in Sarajevo durch wissenschaftliche Forschung und eigenes Nachdenken über die geschichtlichen Hintergründe der Divergenzen innerhalb Europas und besonders mit den USA zu vertiefen, zu verstehen und zu erklären versucht. Dabei geht es nicht vornehmlich um die evidenten Verschiedenheiten in der Wirtschaft und in Fragen der Sicherheit, sondern um tiefgreifende Gegensätze im Verständnis von Recht, Staat und Demokratie. Und so ist denn aus dem Buch ein lesenswerter und lehrreicher Exkurs in Politischer Philosophie geworden.
Frau Haller entwickelt ihre Vergleiche in einer Denkspirale über vier ineinandergreifende Kreise : 1.Europa und die USA ; 2.West- und Mittelosteuropa ; 3.Frankreich und Deutschland ; 4.Europa und die Welt. Diese Kreise berühren immer wieder dieselben Parameter : Staat, Religion, Gemeinschaft, Nation, Recht, Moral, Freiheit, soziale Bindung, Demokratie, Souveränität.
In einem ersten Ansatz erläutert Frau Haller die verschiedenen Wege von Europa und US-Amerika seit dem 17.Jahrhundert. In Europa, die Entstehung einer Anzahl von politischen Territorialstaaten mit fortschreitender Trennung von Staat und Kirche und der Garantie von Freiheit, auch Religionsfreiheit, im Rahmen und und in den Schranken der staatlichen Rechtsordnung – in den Vereinigten Staaten, die Schaffung einer nationalen Gemeinschaft auf der Grundlage religiöser oder quasi-religiöser Bekenntnisse, im Misstrauen gegen Staatsgewalt und in der Abwehr jeder Beeinträchtigung der Religion durch den Staat. In Europa, ein Staatsverständnis nach welchem das Zusammenleben aller und der Interessenausgleich zwischen allen über die öffentliche und die parlamentarische Debatte durch allgemeine Gesetze, die « Stärke des Rechts », geregelt werden – in den USA, der ursprünglich religiös fundierte Zusammenhalt im « American Way of Life » und die Regelung von Interessengegensätzen durch gerichtliche Auseinandersetzung, in welchen Minderheiten zum Zuge kommen, moralische Werte direkt zur Geltung gebracht werden, und das « Recht des Stärkeren » nur allzuoft sich durchsetzt. Vor diesem Hintergrund erklären sich zB das US-amerikanische Sendungsbewusstsein, die Tendenz das « Nationale Interesse » in den Vordergrund zu stellen und in der Unterscheidung zwischen « Gut » und « Böse » zu definieren, mit der Überzeugung für die Bestrafung des « Bösen » auf der ganzen Welt berufen zu sein, aber auch der auf kurzfristige Meisterung von Problemen zulasten langfristiger Perspektiven ausgerichtete Pragmatismus und die Ablehnung jeden Souveränitätsverzichtes unter dem Völkerrecht.
Im zweiten Kreis stellt Frau Haller den Prozess der innereuropäischen Ausbildung von Nationalstaaten dar, als Schlüssel für das Verständnis der heutigen Probleme in Mittelosteuropa, namentlich in Südosteuropa. Über die Aufklärung und die Französische Revolution als Wendepunkt ist in Europa Monarchie durch Demokratie abgelöst worden, Untertanen sind zu Staatsbürgern geworden, mit gleichen Rechten für jeden und gleicher Teilnahme in demokratischen Entscheidungsprozessen. Während sich in Frankreich dieser staatsbürgerliche Ansatz direkt und mit universalem Anspruch in die republikanische Identität der Staatsnation umsetzte, hat anderswo die Romantik mit ihrem partikularistischen Konzept von nationalen Wurzeln und Traditionen und der daraus fliessenden kulturellen Identität zum sozialen und politischen Zusammenhalt in zuweilen aggressiven, weil exklusiven Nationalstaaten beigetragen. In Mittelosteuropa hat die neuere Geschichte den Staat, weil despotisch, in Verruf gebracht, und der neu zu beginnende Aufbau staatsbürgerlicher Identität mit dem dazu gehörenden gleichberechtigten Engagement aller Bürger wird, zumal im Balkan, nur zu oft durch den missbräuchliche Rekurs auf exklusive, ausgrenzende, ethnische Zusammengehörigkeit erschwert und verzögert.. Das in Europa aktive US-Amerika reicht in dieser Auseinandersetzung, aus Unverständnis für die europäische Staats- und Rechtskultur und ihre Voraussetzungen und Gefährdungen, nicht immer eine hilfreiche Hand.
Von grosser Bedeutung erscheinen mir in diesem Zusammenhang Frau Hallers subtile Überlegungen zu den verschiedenen Voraussetzungen und Perspektiven in Frankreich und in Deutschland für den heutigen geschichtsträchtigen europäischen Prozess der schrittweisen Ablösung der staatsbürgerlichen Identität von der kulturellen Identität, nach oben auf dem Weg der europäischen Integration und nach unten durch Dezentralisierung und Regionalisierung im Zeichen der Subsidiarität. Vereint könnten sie es schaffen, Frankreich mit Hilfe seiner republikanischen (allerdings nicht seiner jakobinischen) Tradition und Deutschland mit seinem Respekt für regionale kulturelle Unterschiede unter Vermeidung ihrer separatistischen und ausschliessenden Überhöhung.
Alle diese Überlegungen münden in ein eindrückliches Plädoyer für die Rolle Europas in der Welt. Dem manichäistischen Sendungsbewusstsein der USA hat Europa seine Kompetenz in Sachen universal gültiger, weil alle Menschen gleichermassen anerkennender und einbindender, Grundregeln für eine demokratisch-freiheitliche Rechtsordnung auf der Grundlage unteilbarer Menschenrechte entgegen zu setzen, und Europa sollte für sie im Sinne von Denkanstössen werben und so im Verbund mit Gleichgesinnten zu einer friedlicheren Welt insgesamt beitragen.
Auf jeden Fall aber bleibt die Auseinandersetzung mit der drohenden US-amerikanischen Dominanz in der Welt, auch bei uns, da doch die Vereinigten Staaten spätestens seit dem Ende des 2.Weltkrieges eben auch in Europa nicht nur militärisch präsent und aktiv sind. Man könnte verleitet sein, die Frage zu stellen (soll ich sie die « Gretchenfrage » nennen ?) : « Wie hast du's mit Europa ? » Als Antwort würde Gret Haller sicher eines nicht erwarten : ein Bekenntnis, und wäre es zu Europa. Was gefragt ist, ist eigenes Denken und Widerstand : sich nicht mitreissen lassen von Mode und Macht, sondern sich die Möglichkeit bewahren, nein zu sagen, anders zu wählen. Denn Solidarität, vor allem auch transatlantische, ist eben nicht blind, ist nicht bedingungslos, nicht grenzenlos.
Luzern, 21. Januar 2003
*) Hans-Peter Furrer
Em. Generaldirektor für politische Angelegenheiten
des Europarates (Strassburg)
Theaterstrasse 1
CH - 6003 Luzern
furrer.hp(at)hispeed.ch