USA-EUROPA / Die Unterschiede zwischen Europa und den USA sind viel
      tiefgreifender als gemeinhin angenommen: Diese These vertritt Gret Haller in ihrem neusten Buch. Die frühere Stadtberner Gemeinderätin, SP-Nationalrätin und Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina warnt vor einer Verbreitung des amerikanischen Staats- und Politikverständnisses in Europa.
Es knirscht in der einst anscheinend so festgefügten westlichen
      Partnerschaft und Wertegemeinschaft. Immer offensichtlicher pflegen die USA
      und Europa in Fragen der internationalen Zusammenarbeit unterschiedliche
      Auffassungen und gehen verschiedene Wege. Akzentuiert wird diese Entwicklung
      durch die Terroranschläge vom 11. September: Die USA setzen immer mehr auf
      militärische Stärke und immer weniger auf multilaterale Kooperation.
Robert Kagan, einer der führenden Experten für strategische Fragen der
      US-Aussenpolitik, meint, die Europäer könnten sich ihre auf Diplomatie,
      Verhandlungen und Verträgen basierende Ablehnung von Machtpolitik nur
      leisten, weil die USA bereit seien, ebendiese überall in der Welt
      einzusetzen. Der deutsche Altkanzler Helmut Schmidt alles andere als ein
      Antiamerikaner schrieb dagegen kürzlich in der «Zeit», die Freundschaft mit
      den USA «muss uns nicht hindern zu erkennen, dass wir kein Interesse am
      Ausbau der amerikanischen Tendenz zum Alleingang oder gar zum Imperialismus
      haben.» Die Debatte gewinnt an Fahrt.
Kaum überbrückbarer Graben
Die Erkenntnis, dass der Alte Kontinent und die Neue Welt aus
      unterschiedlichem Holz geschnitzt sind, ist zwar weder neu noch originell.
      Gret Haller sie hat bereits verschiedentlich über Menschenrechte und
      Menschenrechtskultur publiziert bringt in ihrem jüngsten Werk jetzt aber
      einen in der breiten Öffentlichkeit wenig beachteten Aspekt zur Sprache: In
      ihrem Buch mit dem Titel «Die Grenzen der Solidarität Europa und die USA im
      Umgang mit Staat, Nation und Religion» ortet die Autorin einen schwer
      überbrückbaren Graben, der auf der Ideengeschichte, auf einer
      unterschiedlichen Religions-, Rechts- und Staatskultur fusst.
      Sie ist überzeugt, dass Westeuropa und die USA «in verschiedenen Bereichen
      von viel unterschiedlicheren Prämissen ausgehen, als man während des Kalten
      Krieges anzunehmen vermochte». Nach dem Ende der simplifizierenden
      Zweiteilung der Welt in Ost und West treten die Differenzen immer deutlicher
      zutage, ja Europa sei «zum natürlichen Gegenspieler der Vereinigten Staaten
      geworden».
      Was das Buch besonders spannend macht: Die Autorin untersucht die
      transatlantischen Differenzen nicht nur theoretisch, sondern stützt ihre
      Argumentation auf subtile Beobachtungen und Erfahrungen, die sie während
      ihrer Tätigkeit als Menschenrechtsbeauftragte in Bosnien machte. Sie liefert
      eine prägnante Darstellung der Probleme der internationalen Gemeinschaft
      beim Aufbau staatlicher Strukturen und der Schwierigkeiten bei der
      Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Stellen in diesem komplizierten
      Unterfangen.
Misstrauen gegenüber Staat
Haller leitet die Disharmonien zwischen Europa und den USA aus der
      Geschichte her. Zentral ist für sie dabei die Weggabelung von 1648: Die
      Entwicklung Europas führte nach dem Dreissigjährigen Krieg und dem
      Westfälischen Frieden weg von den Religionskriegen hin zum Primat des
      Staates über die Religion. Die religiöse Begründung des Staates fiel dahin.
      Bei der Begründung der nationalen Identität der USA dagegen verhält es sich
      gerade umgekehrt: Zwar kennen die USA eine strikte Trennung von Kirche und
      Staat, aber mit dem Ziel, das Religiöse vor dem staatlichen Zugriff zu
      schützen, um damit das religiöse Fundament der Nation zu bewahren. In Europa
      entwickelte sich nach den Religionskriegen und Kulturkämpfen aller Art ein
      latentes Misstrauen gegenüber den Kirchen, in den USA dagegen ist bis heute
      das Misstrauen gegenüber dem Staat wichtiger Bestandteil der Identität.
      Die Französische Revolution verband den Staat mit der Nation und machte den
      säkularisierten Nationalstaat in Europa zum Modell; diese Verbindung von
      Staat und Nation verlieh der Staatlichkeit grosses Gewicht und Ansehen und
      diente auch als Gefäss für nationale Gefühle. Gerade umgekehrt ist die
      Gefühlslage in den USA: Die puritanischen Pilgerväter wanderten in die Neue
      Welt aus, um ihren religiösen Vorstellungen ungehindert nachleben zu können,
      was sich auf das Verständnis der Nation auswirkte. «Die Begründung der
      US-amerikanischen Nation ist letztlich eine religiöse», schreibt Haller.
      Denn was man wirklich nicht wollte, war die Gründung eines eigenen Staates
      in jener Ausprägung, die man durch die Auswanderung gerade erst
      abgeschüttelt hatte.
      Das Fehlen eines europäischen Staatsverständnisses hatte weit reichende
      Konsequenzen. Da die Zugehörigkeit zum Staat als Zwang empfunden wird,
      werden zahlreiche in Europa als öffentlich verstandene Aufgaben in den USA
      durch private Vereinigungen wahrgenommen: «Etwas verkürzt könnte man sagen,
      Europa habe damals als gesellschaftliche Einbindung die Staatlichkeit
      gewählt, die Vereinigten Staaten hingegen die ,Gemeinschaft.» Das wiederum
      hat zur Folge, dass man sich zu diesen selbst gewählten Gruppen und
      Gemeinschaften oder eben auch zur amerikanischen Nation, zum «American Way
      of Life» aktiv bekennen muss, ganz ähnlich wie zu einer Religion. «Der
      Begriff ,Bekenntnis wird so gleichsam zum Schlüsselbegriff für die Erklärung
      transatlantischer Unterschiede.» In Europa so lautet Hallers These gehört
      der Einzelne einfach schon deshalb zu Staat und Gesellschaft, weil er
      existiert ganz ohne Bekenntnis.
Kein Souveränitätsverzicht
Die stark auf einem individuellen Akt basierende Zugehörigkeit bewirkt
      deshalb auch ein anderes Rechts- und Politikverständnis des Amerikaners.
      Einzelpersonen, aber auch Interessengruppen und Minderheiten suchen viel
      stärker die juristische Auseinandersetzung statt die politische Betätigung:
      «Demokratie ist in Europa klar mit Parlamentarismus verbunden, während in
      den Vereinigten Staaten Demokratie viel stärker mit der Justiz verbunden
      ist.» Was in Europa politisch erkämpft wird, wird in den USA juristisch
      erstritten. Gret Haller ist deshalb überzeugt, «dass das europäische Recht
      eher eine Friedensordnung anstrebt, das US-amerikanische Recht demgegenüber
      eher eine Streitkultur darstellt».
      Das hat Auswirkungen auf das Verständnis des Völkerrechts: Die Europäer
      haben die Gestaltung einer allgemein gültigen Ordnung vor Augen und sind im
      Namen des Völkerrechts zu einem Souveränitätsverzicht bereit etwas, das den
      Amerikanern völlig gegen den Strich geht: «Die immer offensichtlicher
      werdende Ablehnung des völkerrechtlichen Souveränitätsverzichts durch die
      Vereinigten Staaten hat vor allem historische Wurzeln, die darauf
      zurückgehen, dass der ,Souveränitätsverzicht des Individuums zugunsten des
      Staates jenseits des Atlantiks ein Phänomen darstellt, das negativ gesehen
      wird.»
      Mit anderen Worten: Das bereits oben dargestellte Misstrauen gegenüber dem
      Staat überträgt sich auf die internationale Ebene. Die europäischen Staaten
      haben sich dagegen nicht zuletzt angesichts ihrer leidvollen Geschichte in
      verschiedenen Bereichen auf den teilweisen Verzicht auf nationalstaatliche
      Souveränität geeinigt so etwa im Rahmen der EU.
      Das zeigt sich aber auch am Beispiel der Menschenrechte: Kein Staat kann
      Mitglied des Europarates werden, ohne den Souveränitätsverzicht zugunsten
      des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte geleistet zu haben: Jeder
      kann sich mit einer Beschwerde an den Gerichtshof wenden, der unabhängig von
      den Regierungen der Vertragsstaaten Recht spricht. Ganz anders die USA. Sie
      unterwerfen sich laut Haller «konsequent keinen völkerrechtlichen
      Schutzmechanismen mit Individualbeschwerde».
      Ausführlich geht Haller auf das unterschiedliche Menschenrechtsverständnis
      im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in Bosnien ein. Sie verweist zudem
      darauf, dass die transatlantischen Unterschiede bereits beim Zustandekommen
      des Friedensabkommens von Dayton 1995 eine Rolle gespielt haben (siehe
      Interview). Die mittelosteuropäischen Staaten seien für das US-Modell nicht
      zuletzt deshalb empfänglich, weil sich «der Staat» in kommunistischer Zeit
      selbst gründlich diskreditiert hat.
Gefahren in Mittelosteuropa
Die Umwälzungen von 1989 waren «Revolutionen gegen den Staat» und weisen
      somit eine Verwandtschaft mit der amerikanischen Revolution im 18.
      Jahrhundert auf. Haller verweist denn auch darauf, dass das amerikanische
      Modell der Gesellschafts- und Gruppenidentität anstelle der europäisch
      verstandenen Staatlichkeit in Mittelosteuropa den Kampf um die Durchsetzung
      der Rechte «nationaler» Minderheiten als Gruppen fördern und damit die
      ethnischen Spannungen anheizen könne: «Würde anstelle der staatspolitischen
      Identität eine ,Identität der Gemeinschaft entwickelt, so wäre es kaum
      möglich, die nationalistischen Kräfte in ein Ganzes zu integrieren.» Die
      Autorin warnt: «Dabei sollte Westeuropa die friedenspolitische und die das
      Freiheitsverständnis betreffende Sprengkraft nicht unterschätzen, welche
      Mittelosteuropa in die gesamteuropäische Ehe einbrächte, wenn in diesem Teil
      des Kontinents US-amerikanische Traditionen der Ideengeschichte rezipiert
      würden.»
      Gret Hallers Buch ist ein Plädoyer für die nüchterne Staatlichkeit
      europäischer Prägung und ein europäisches Politikverständnis, obschon sie in
      fairer Weise beiden Konzepten gerecht zu werden versucht. Es geht ihr dabei
      «nicht um eine Wertung, schon gar nicht um eine moralische Wertung». Man
      müsse beide Traditionen kennen, verstehen und rational einordnen. «Geschieht
      dies nicht, so greift unter Umständen ein hilfloser ,Anti-Amerikanismus
      Platz, der zwar als Reaktion auf den Absolutheitsanspruch des
      US-amerikanischen Sendungsbewusstseins verständlich ist, insbesondere das
      säkularisierte Europa jedoch nicht weiterbringt.»