Die Besatzungspolitik in Bosnien und Herzegowina verheißt nichts Gutes für den Wiederaufbau des Irak. Eine kritische Bestandsaufnahme der ehemaligen Ombudsfrau für Menschenrechte, Gret Haller
Während die Interventionisten schon nach neuen Objekten Ausschau halten, erinnert das Bemühen, im Irak eine friedliche und stabile Nachkriegsordnung aufzubauen, an kapitale Versäumnisse und unfinished business in Afghanistan. Dabei droht eine lehrreiche Geschichte in Vergessenheit zu geraten, die nur wenig älter ist: die immer noch prekäre Befriedung von Bosnien und Herzegowina. Der instruktive Bericht der dort bis zum Jahr 2000 als Ombudsfrau für Menschenrechte tätigen Schweizer Anwältin Gret Haller ist nach dem 11. September 2001 noch aktueller und nach dem Irakfeldzug noch lesenswerter geworden. Haller zieht «Grenzen der Solidarität» in einem historischen Augenblick, da die westliche Demokratie und Lebensform vom islamistischen Terror bedroht ist, aber auch «der Westen» als politisch-kulturelles Konzept zunehmend obsolet wird.
Das zeichnete sich bereits mit dem Ende des Kalten Krieges ab. Besonders im jugoslawischen Krieg der 1990er-Jahre zeigten sich erste, kaum zur Kenntnis genomme Uneinigkeiten zwischen Europa und den USA. In ihrem Amt in Sarajevo erkannte die engagierte Sozialdemokratin und Feministin Haller schnell, dass das von der Clinton-Administration erzwungene Dayton-Abkommen zu viele Konstruktionsfehler aufwies, um nachhaltig Menschenrechtspolitik zu ermöglichen.
Diesen Lernprozess können die Leser mitvollziehen, wobei Haller ihre Erlebnisse und Beobachtungen leider zu oft hinter Lesefrüchten aus politikwissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Literatur verschwinden lässt. Man hätte sich gewünscht, sie belegte weniger anekdotisch oder abstrahierend ihre zentrale These, dass die Vorherrschaft der USA im Friedensprozess einen dauerhaften Frieden in Bosnien und Herzegowina unmöglich gemacht habe – eine Folge der Abwesenheit gemeinsamer europäischer Politikalternativen vor und nach 1992!
Doch trifft ihre Analyse im Kern wohl zu: «Missverständnisse» und Entfremdungen zwischen Amerikanern und Europäern bei der Kontrolle und Rekonstruktion Bosniens gründen in einem divergierenden Verständnis von Staat und Religion. Diese alte Diskrepanz tritt jetzt dramatisch klar hervor, da sich der Nebel der transatlantischen Wertegemeinschaft hebt. Die westliche Allianz hatte Bestand, solange sie der Eindämmung der sowjetkommunistischen Bedrohung diente, jetzt besinnt Amerika sich wieder ganz auf sich selbst.
Haller argumentiert differenziert und behauptet nicht, die Ansichten der gegenwärtigen US-Regierung würden von allen Amerikanern geteilt. Präsident Bush kann heute aber durchaus für sich in Anspruch nehmen, uramerikanische Werte zu vertreten. Die wesentlichen Unstimmigkeiten im alten Westen liegen nicht im ökonomischen Bereich, wo Differenzen und Konkurrenzen offen diskutiert werden, sondern sind politisch-kultureller Natur und werden nur durch suggestive Gemeinsamkeitsphrasen kaschiert.
Haller konzentriert sich auf drei Aspekte: zunächst auf das andere Säkularisierungsmuster, das die Religion von der Politik klar trennt, ihr im öffentlichen Raum aber einen wesentlichen Platz belässt. Darauf gründen dann ein gut Teil der zivilgesellschaftlichen Strukturen und das distanzierte Verhältnis der US-Citizens zum Staat, das von großer Skepsis gegenüber Bürokratie und öffentlichen Diensten gekennzeichnet ist. Auch wenn sich die Vereinigten Staaten nach dem 11. September in vieler Hinsicht in einen ordinären Nationalstaat zurückgebildet haben, so zeigen Hallers Erfahrungen in Bosnien, wie selbstverständlich US-Sicherheitsorgane diese Maßstäbe auf eine zentraleuropäische Region übertrugen und ihr Demokratieverständnis bei den Bemühungen zugrunde legten, im ehemaligen Jugoslawien eine zivile Ordnung zu schaffen.
Für Haller, eine erklärte Vernunftrepublikanerin, wurde damit ethnischen und religiösen Partikularismen zu viel Raum gegeben. Sie verhinderten, dass universale Normen und Werte institutionalisiert wurden und dass jenseits partikularer Interessen wieder eine öffentliche Sphäre, ein staatliches Gewaltmonopol und eine Vorstellung von kollektiven Gütern entstehen konnte. Letztlich dereguliere sich so das Verständnis von Menschenrechten, das einer lediglich moralisch begründeten und nicht mehr völkerrechtlich gestützten Intervention Tür und Tor öffnet. Gret Haller ist die Enttäuschung über den amerikanischen Pragmatismus anzumerken, der letztlich einer Mischung aus Militarismus und Ökonomismus den Weg bereitet hat, aber sie ist auch fasziniert von den kurzfristigen Scheinerfolgen dieses Vorgehens. Ihr Buch dokumentiert den Versuch, sich zu «deprogrammieren» .
Das ist lehrreich für den «liberalen Interventionismus» insgesamt, der in den 1990er-Jahren fast zur Doktrin wurde. Nicht dass man ein Recht auf humanitäre Intervention prinzipiell zurückweisen könnte. Aber im Irakkrieg hat man gesehen, wohin diese in Jugoslawien begonnene Relativierung geltenden Rechts führen kann. Hallers Buch liefert damit gute Argumente gegen den um sich greifenden Opportunismus europäischer Kommentatoren, die bereit scheinen, es dem Recht des Stärksten zu opfern.
Und hier sieht man, dass es sich beim Streit um die Gestaltung der Nachkriegsordnung (unter UN-Ägide oder nicht) nicht um Lappalien handelt. Es geht ums Ganze, Formelkompromisse mit amerikanischen Politikern, Juristen und Militärs reichen nicht aus. Nach 1989 war Europa zu schwach, um sich der politisch-kulturellen Hegemonie der Vereinigten Staaten entgegenzustellen, und der «liberale Interventionismus» schwenkte auf die amerikanische Linie ein. Aber ist Europa heute stärker?
Gret Haller: «Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion» . 288 Seiten, Aufbau Verlag, Berlin 2002, 20 ¤