Gret Haller warnt vor einer prekären Vermengung von Politik und Religion
«Durch Dämonisierung ist Fundamentalismus nicht zu entzaubern», diese mittlerweile gängige Auffassung über die Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Gedankengängen und Politik beinhaltet eigentlich zwei Festlegungen: Fundamentalismen als individuelle und kollektive Einstellungen richten sich gegen vernunftbestimmtes und damit demokratisches Denken und Handeln der Menschen; und sie lassen sich nicht mit den üblichen Mitteln der Machtausübung «bekämpfen», sondern die Ideen müssen «entzaubert», also auf die Ursprünge der fundamentalistischen Einstellungen und Heilserwartungen hinterfragt und damit ad absurdum geführt werden.
Diese Methode hat einen entscheidenden Vorteil: Die Auseinandersetzung erfolgt vernunftgemäß, sie orientiert sich an der Überzeugung, dass der Mensch ein «vernunftbegabtes Wesen» ist, wie dies in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) formuliert wird: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.»
Gleichzeitig aber haftet dieser Haltung ein Nachteil an: Die politische Auseinandersetzung über fundamentalistisches Denken und Politik wird nicht selten mit ungleichen Mitteln geführt. Eine auf den Prinzipien der Toleranz geführte Konfrontation erscheint ohnmächtig dann, wenn fundamentalistische Einstellungen tolerante und demokratische Ideale nicht anerkennen, sondern mit den Mitteln der terroristischen wie kapitalistischen Macht vorgehen.
Nicht Mission, sondern Verantwortung
Die 1947 in Zürich geborene Gret Haller, Juristin und Politologin, Mitglied des Schweizerischen Parlaments, Botschafterin beim Europarat und von der OSZE gewählte Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien und Herzegowina, jetzt als Publizistin tätig, greift mit ihrem Buch «Politik der Götter» die offenbar bisher weitgehend tabuisierte Problematik auf, dass Europa zurzeit mit zwei fundamentalistischen Strömungen konfrontiert ist: dem islamischen Fundamentalismus und dem Fundamentalismus US-amerikanischer Provenienz.
In ihrem Vorwort zu dem mutigen Buch macht sie auch deutlich, welche Skrupel und Bedenken in ihr sind, wenn sie feststellt, dass «auch von den Vereinigten Staaten eine Form von Fundamentalismus ausgeht». Sie teilt mit einer inzwischen wachsenden Zahl von Europäern die Schwierigkeit, dass die Analyse und Kritik an fundamentalistischen Strömungen in den USA die (so genannte) «Geborgenheit in einer Wertegemeinschaft der westlichen Welt gefährden könnte».
Nicht, weil sie der Auffassung ist, dass der islamisch orientierte Fundamentalismus weniger gefährlich sei oder weniger Aufmerksamkeit erfordere, sondern auf der Grundlage eines in der europäischen Geschichte und den Kulturen des Kontinents entstandenen politischen Denkens einer res publica und einer aristotelischen politeia, der rechtlich-sozialen, ökonomischen und sittlichen Ordnung eines Gemeinwesens.
Dabei geht es nicht um eine «Mission», die Europa habe bei der Entwicklung der immer interdependenteren Welt, sondern um eine «Verantwortung» im Sinne einer res publica; freilich auch nicht als Moralisierung: «Die einzige moralische Pflicht jedes Staates besteht darin, auf eine möglichst umfassende völkerrechtliche Ordnung hinzuarbeiten und diese möglichst weitgehend im Sinne der geteilten Souveränität für sich selbst anzuerkennen.»
Das Verhältnis von Markt und Staat
In insgesamt zehn Kapiteln führt sie ihre Auseinandersetzung mit den Tendenzen und konkreten Politiken in den USA, die fundamentalistische Entwicklungen kennzeichnen. Im ersten Kapitel stellt sie die unterschiedlichen Auffassungen in den USA und europäischen Ländern zum Verhältnis von Kirche und Staat sowie der Trennung von Religion und Politik dar. Machen Götter Politik? Oder wer macht mit Hilfe von Göttern Politik? «Die Politik der Götter ist in Europa durch den Republikanismus ersetzt worden» – mit dieser Abgrenzung geht sie im zweiten Kapitel auf die Frage ein, was Republikanismus eigentlich sei.
Grundlegende Unterschiede in der europäischen politischen Entwicklung im Vergleich mit der US-amerikanischen macht die Autorin im Verständnis und im politischen und ökonomischen Handeln, dem «Markt, fest. Wie definiert sich das Verhältnis von Staat und Markt im europäischen und US-amerikanischen Verständnis? «Die US-amerikanische Idealvorstellung liegt an jenem Ende des Sektors, das Richtung ‹Markt› tendiert, die europäische Idealvorstellung am anderen Ende, das Richtung ‹Staat› tendiert».
Neben zahlreichen weiteren Beispielen, die diese Einschätzung bestätigen könnten, nimmt sie auch den US-amerikanischen Philosophen Richard Rorty als Zeugen, der den transatlantischen Unterschied im Verhältnis von Staat und Wirtschaft darin kennzeichnet, dass, nach einer internationalen Erhebung zur Frage, ob die Armen arm seien, weil sie faul sind oder weil sie durch die Gesellschaft benachteiligt würden, etwa 25 Prozent der Europäer die Meinung vertraten, die Armen seien zu faul, während fast zwei Drittel der Amerikaner diese Überzeugung hatten.
Freiheit und Gleichheit
Im dritten Kapitel diskutiert Gret Haller «rechtsfreie, staatsfreie und politikfreie Räume» am Beispiel der Situation in Guantánamo und der Menschenrechte. Der unübersehbare «Kreuzzugsgedanke», der die US-amerikanische Politik im Kampf gegen den muslimischen Fundamentalismus bestimmt, ist nach Meinung der Autorin konträr zum Gedanken der res publica – und kontraproduktiv gegen die Abwehr von demokratiefeindlichen Fundamentalismen jeder Art. Als eine Ursache dieser Politik macht sie Auserwähltheitsvorstellungen aus, die in der Geschichte der USA zahlreiche Beispiele und Begründungen liefern.
Im vierten Kapitel geht es um den Zusammenhang von Individualismus und Universalismus, also um den Grundideen menschlichen Seins: Freiheit und Menschenwürde. Das, was man heute als den «universellen Imperativ» bezeichnen könnte, wird wirksam in der Überzeugung: «Da die Gleichheit der Menschenwürde nicht vor Grenzen Halt macht, weder vor den Landesgrenzen noch vor den Grenzen eines Kontinents, kann die individuelle Menschenwürde nur dann wirksam gedacht werden, wenn sie universell ist.»
Die Prinzipien «Freiheit» und «Gleichheit» aber stünden, so die Autorin, in den Vereinigten Staaten in einem anderen Verhältnis zueinander als in Europa. Die von Jeremy Rifkin aufgezeigte Sichtweise entspräche gleichsam den US-amerikanischen Vorstellungen: «Um autonom zu sein, muss man begütert sein. Je mehr Reichtum man anhäuft, um so unabhängiger ist man von der Welt ...» Es geht also in diesem Denken nicht darum, ein «Mit-der-Welt-Sein» anzustreben, sondern ein «Sich-von-der-Welt-Distanzieren», oder, weil die Götter es so wollen und gemacht haben: Ein ausgewähltes Volk innerhalb dieser Welt zu sein.
Das Weltbild der Besseren
Eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen, geschichtlich entstandenen, kulturell und ökonomisch verankerten Auffassungen und Lebenszielen von US-Amerikanern und Europäern ist freilich nicht möglich, ohne die fundamentalistischen Katastrophen in Europa, etwa durch die Religions- und Eroberungskriege, durch nationalistisches, rassistisches und ethnisches Denken und Höherwertigkeitsvorstellungen, zu berücksichtigen: Weil Fundamentalismus immer auf einer absolut gesetzten Wahrheit basiert, kann diese auch nicht diskutiert werden; sie ist religiös oder ideologisch zementiert.
Nach diesen Vorstellungen kann es dann nur eine Lösung geben: den «clash of civilisation» im Sinne von Samuel Huntington. Hier sind wir bei der durchaus neuen Sichtweise, die sich bei den Fundamentalismen der Welt etabliert hat: Fundamentalismus kulturell zu begründen. Die Autorin diskutiert diesen Aspekt mit der US-amerikanischen Überzeugung von «Wir und der Rest der Welt».
Die für Internationalisten und Globalisten kaum versteh- und erklärbaren Reaktionen und politischen Strategien der USA etwa in ihrem Umgang mit internationalen Organisationen und Institutionen, wie etwa den Vereinten Nationen, durchaus auch mit den Einschätzungen der Vereinigungsbestrebungen in Europa – das «alte Europa» – und nicht zuletzt der Verweigerung einer gleichberechtigten Zusammenarbeit, wie etwa beim Klimaschutz (Verweigerung zum Beitritt des Kyoto-Protokolls), der (Macht)Frage über die Erdölressourcen der Welt oder der Ablehnung der Bildung eines Internationalen Gerichtshofs, beruhen, so Gret Haller, im Wesentlichen auf dem US-amerikanischen «Weltbild des Besseren». Gleichheitsdenken hat hier keinen Platz!
Die Werte der res publica
Im achten Kapitel, gewissermaßen als Konklusion ihres Zeigefingers auf das politische, kulturelle und globale Verhältnis der USA zu Europa, kommt sie – weil ein Finger, der auf einen anderen zeigt, immer mit drei Fingern auf den Zeigenden selbst zurückweist – zu dem Rat an die Europäer, etwa bei ihren Bemühungen zum Zusammenschluss im «alten Kontinent», nicht den US-amerikanischen Fehler zu begehen, besser sein zu wollen als die anderen, sondern sich in Europa wieder auf die Werte der res publica zu besinnen, auf das, was als Menschheitsziel nach wie von Wert ist, was erstrebt und erarbeitet werden muss: Durch die Überwindung von nationalen Auserwähltheitsvorstellungen den Frieden für alle Menschen auf der Erde zu schaffen.
Die Schweizer Autorin hat mit ihrer Reflexion und Frage nach dem «Ort der Götter» und ihre Bedeutung für lokale und globale Politik der Menschen keine wissenschaftliche Analyse noch eine Bestandsaufnahme des politischen und kulturellen Verhältnisses der US-Amerikaner zu den Europäern abgeliefert. Sie hat einfach ihre Erfahrungen, die sie als nationale und internationale Politikerin mit den transatlantischen, politischen und individuellen Kontakten mit Menschen und Institutionen gesammelt hat, aufgeschrieben, emotional und rational. Das zeigen auch die jedem der zehn Kapitel vorangestellten Erlebnisberichte, zum Beispiel über Bahnfahrten (eine ihrer Leidenschaften, wie sie bekennt) innerhalb Europas, bei internationalen Konferenzen oder beim Nachdenken über das vielfach so hoch gelobte Schweizer Wahlrecht.
Denk ich an Europa..., diese umgewandelte Heine’sche Diktion über die Einschätzung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung in Europa, hin zu einem «Vereinigten Europa», wird in vermehrtem Maße von Europapolitikern auf den Markt getragen, von Historikern diskutiert, von Philosophen reflektiert und von positiven Provokateuren aufgespießt. Gret Haller dürfte sich in ihren Argumentationslinien ihrem Landsmann Hans A. Pestalozzi verwandt fühlen, der in seinem 1979 erschienenem Buch «Nach uns die Zukunft» zur «positiven Subversion» aufruft.
© Die Berliner Literaturkritik, 31.01.06