Christlicher Fundamentalismus in den USA
Am 13. Dezember 2003 wird Saddam Hussein nahe seiner Heimatstadt Tikrit festgenommen. Unverzüglich kommt es in einem besonderen Raum viele Kilometer weiter westlich zu einer intensiven Zeremonie. Während zwei Männer gesenkten Hauptes niederknien, sagt ein Pfarrer per Konferenzschaltung: «Jesus, diese Mission trägt deine Handschrift, und es ist dein Werk, o Herr, dass das Böse, das Saddam Hussein verkörpert, der Gerechtigkeit zugeführt wird. Im Namen Jesu Christi danken wir dir für dieses grossartige Geschenk, das du dem rechtschaffenen Volk der gesegneten Vereinigten Staaten von Amerika gemacht hast.» Die zwei Männer im Zimmer sind der amerikanische Justizminister John Ashcroft und Präsident George W. Bush, der seine Arbeitsstätte, das Oval Office, zur Ausübung seines Glaubens genutzt hat.
Die Evangelikalen als politischer Faktor
Die Szene ist typisch für das Verhalten zahlreicher Menschen der heutigen Neuen Welt ohne Unterschied nach Position, Alter, Geschlecht. Längst ist bekannt, dass sich Bush junior zu den «Evangelikalen» zählt. Diese Gruppe, auch als «christliche Fundamentalisten», «wiedergeborene Christen» oder «christliche Rechte» etikettiert, hat den Nerv etlicher Zeitgenossen getroffen. Schon wenige Fakten wecken Interesse am Phänomen «Evangelikale»: Rund 80 Millionen Amerikaner, also 30 Prozent der Bevölkerung, gehören dazu. In der National Association of Evangelicals sind 45 000 Kirchen vereinigt, zirka 1000 «Megachurches» bieten Lebenshilfe, Sozialleistungen und Spektakel. Und nach einmütiger Expertenmeinung haben die Fundamentalisten ihren Mitgläubigen Bush zweimal ins Weisse Haus gebracht.
Wie hat sich die christliche Rechte entwickelt? Welche Gefahren gehen von ihr aus? Und was kann man gegen sie tun? Darum geht es, mit unterschiedlicher Akzentuierung, in gut lesbaren Studien der Amerikanerin Barbara Victor und der Schweizerin Gret Haller. Die Autorinnen betrachten mithin ein durch Vorurteile befrachtetes Sujet, das in vergleichbaren neuen Publikationen entweder bloss gestreift (so in Hartmut Heuermanns «Religion und Ideologie» und in Matthias Rübs «Der Atlantische Graben») oder ohne rechten roten Faden verhandelt worden ist (etwa im Aufsatzband «God Bless America», den Manfred Brocker ediert hat).
Tradition der öffentlichen Moral
Barbara Victor arbeitete 15 Jahre lang für den Fernsehsender CBS, hat sich auf den Nahen Osten spezialisiert und unter anderem eine Biografie der Palästinensersprecherin Hanan Ashrawi vorgelegt. In ihrem neuen Buch, «Beten im Oval Office» («The Last Crusade»), erörtert die ausserdem als Schriftstellerin dilettierende Journalistin primär die Genese des christlichen Fundamentalismus und seine Folgen. Mit Recht verweist Victor auf die lange Tradition der USA, christliches Bekenntnis als «Werkzeug für weltliche Politik» zu gebrauchen. Die Gründerväter verordneten zwar eine Trennung von Kirche und Staat, indessen sah die Mehrheit des Volkes stets ihren «way of life» im gottgegebenen Recht auf Dasein, Freiheit und das Streben nach Glück verwurzelt und war sicher, dass Gott in ihrem Denken und Tun zentral sein sollte.
Die moderne evangelikale Bewegung verdankt viel den methodistischen und baptistischen Kirchen des 19. Jahrhunderts, deren radikale Repräsentanten den britischen Geistlichen John Nelson Darby förderten. Er wetterte gegen sexuelle Ausschweifungen, Gottlosigkeit und jegliches Aufbegehren. Ferner übernahmen die Gemeinden manche Elemente der 1901 einsetzenden Pfingstbewegung, darunter jenen ekstatischen Augenblick, den Anhänger als physische Inbesitznahme durch den Heiligen Geist deuten, wodurch sie angeblich «in fremden Zungen» reden. Geschäftstüchtige «Teleevangelisten» haben derlei in den vergangenen Jahren mit christlichem Sendungsgedanken, moralischem Differenzierungswillen und landeseigenem Auserwähltheitsmythos zu einem durch Terrorangriffe und Naturkatastrophen angeheizten Gemisch verrührt, das evangelikale unter den christlichen Verbänden am meisten gedeihen lässt.
Zu den Konsequenzen gehört nach Victors Ansicht eine Reihe innenpolitischer Mängel. Sie begründet es plausibel, wenn sie beispielsweise eine Schwächung der Gewaltenteilung, eine Aushöhlung der Toleranz oder eine «glaubensgestützte Ethik» am Arbeitsplatz konstatiert. Und in der Tat hat die «militante Frömmigkeit» einer selbstbewussten Elite nicht nur staatlichen Willkürmassnahmen gegenüber jedermann Tür und Tor geöffnet, sondern zudem wichtige Themen wie Stellenmarkt, Wirtschaftswachstum, Erziehung, Gesundheit und Kinderbetreuung an den Rand gedrückt. Obendrein betreiben die Evangelikalen, die bestimmte Kreise in Israel massiv finanziell unterstützen, eine eigene Aussenpolitik, indem sie den Staat Israel ermutigen, gegenüber den Palästinensern hart zu bleiben.
Europäische Perspektiven
Gret Haller widmet sich in ihrer Abhandlung «Politik der Götter» zunächst den historisch geformten transatlantischen Kontrasten hinsichtlich der Rolle von Staat und Religion. Die einstige Berner Gemeinderätin, Nationalrätin und Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina trat 2002 mit einer ähnlich gelagerten Veröffentlichung hervor («Die Grenzen der Solidarität»). Neue Aspekte betreffen erstens Parallelen zwischen islamistischen und christlichen Fundamentalisten: Beide Fraktionen hätten etwa Recht durch Moral ersetzt und unterminierten das Gleichheitsprinzip. Zweitens führt Haller aus, dass in der Schweiz ebenfalls religiös-konservativen Kräften zum Durchbruch verholfen werde. «Die Exponenten der Zürcher SVP operieren mit absoluten und undiskutierbaren Wahrheiten.»
Konkreter als Victor nennt Haller diverse Möglichkeiten, fundamentalistischen Tendenzen zu widerstehen. So fordert sie, dass ursprünglich religiös geprägte Voten in der politischen Diskussion eine Übersetzung in die allgemeine Sprache der «res publica» leisten. So verlangt sie, dass sämtliche Staaten auf eine umfassende völkerrechtliche Ordnung hinarbeiten und diese im Sinne der geteilten Souveränität anerkennen. Und so insistiert sie darauf, dass die Europäer keine Mission hätten, aber eine Verantwortung; neben anderem sei zu beachten, dass gerade strittige Gegenstände jenseits des Abendlands oft in religiösen Kontexten gesehen würden.
Die Autorinnen pflegen leider beide einen Stil mitunter mantrahafter Wiederholungen. Hinzu tritt bei Haller eine gewisse Schulmeisterlichkeit, bei Victor geradezu eine Stutenbissigkeit; zum Beispiel heisst es über eine Interviewpartnerin: «Die Tatsache, dass sie es schafft, trotz unglaublich hoher Stöckelschuhe nicht die Balance zu verlieren, legt beredtes Zeugnis ab für ihre Entschlossenheit, sich vom fortschreitenden Alter nicht unterkriegen zu lassen.» Dennoch bleibt festzuhalten, dass zwei versierte Publizistinnen die Hintergründe des Kreuzzugs von «Gottes eigenem Land» gegen sich und den Rest der Welt wegweisend erhellen.
Barbara Victor: Beten im Oval Office. Christlicher Fundamentalismus in den USA und die internationale Politik. Pendo-Verlag, München und Zürich 2005. 342 S., Fr. 36., ¤ 20..
Gret Haller: Politik der Götter. Europa und der neue Fundamentalismus. Aufbau-Verlag, Berlin 2005. 224 S., Fr. 34.30, ¤ 19..
Neue Zürcher Zeitung, 10. Dezember 2005, Ressort Politische Literatur
Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG