Perspektiven einer europäischen Identität
nzz 21.06.03 Nr. 141 Seite 85 zf Teil 01
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DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION HEUTE
Perspektiven einer europäischen Identität
Von Gret Haller*
Sowohl das Konstrukt der Republik wie dasjenige der Nation sind prägend für die Geschichte Europas. Macht die Republik das Individuum stark, stellt die Nation eher die
Gruppe in den Mittelpunkt. Im Nationalstaat der Französischen Revolution fanden sie
zusammen. Doch mit dem Entstehen der Europäischen Union begannen sich Republik
und Nation wieder zu trennen. Die staatspolitische Identität löst sich von einer emotio
nal-nationalen ab. Diese Entwicklung weckt Ängste, die sich europafeindlich äussern.
Gleichzeitig bietet sie den Grund einer (künftigen) europäischen Identität.
In der Französischen Revolution verband sich
der republikanische Staat mit der Nation: Es ent
stand der Nationalstaat. Der eine Bündnispart
ner, die Republik, geht auf die Aufklärung zurück,
die die Idee der Individualität und der Gleichheit
der Menschen verbreitet hatte sowie das Denken
in universellen Kategorien. Die darauf basierende
republikanische Staatsform wurde in der Franzö
sischen Revolution umgesetzt. Der andere Bünd
nispartner, die Nation, war durch die Romantik
geprägt, die der Aufklärung vor allem in drei
Punkten widersprach: Anstelle der Vernunft be
tonte sie die Emotion, anstelle der universalen
Betrachtungsweise das Kleinräumige, das Beson
dere, und anstelle des Individuums die Gruppe.
Die Nation war zuvor ausschliesslich kulturell
definiert und weder einer ethnischen noch einer
politischen Interpretation zugänglich.
Zum Bündnis zwischen diesen beiden unglei
chen Partnern kam es, weil dem französischen
Staat nach der Absetzung des Königs die Identität
fehlte:«L'Etat c'est moi »war Vergangenheit. Aus
den abstrakten Ideen der Aufklärung konnte
keine neue Identität abgeleitet werden, weshalb
man auf die Kulturnation zurückgriff. Sie wurde
zur Staatsnation umdefiniert und diente nun dem
republikanischen Gedanken als identitätsstiften
des Gefäss. In der «nationalen Identität» stecken
traditionell immer eine staatspolitische sowie eine
kulturelle Komponente.
Inbegriff aufklärerischer Universalität
Die französische Nation wurde zum Inbegriff
aufklärerischer Universalität, sie drängte regionale
oder andersartige kleinräumige kulturelle Identi
täten zurück. Stattdessen wurde eine durchaus
auch kulturell verstandene Ersatzidentität auf der
gesamtstaatlichen, also auf der «nationalen »
Ebene angeboten: Jedes Individuum erhielt sei
nen Anteil an der «Grande Nation». So lud sich
die staatspolitische Identität auch kulturell auf:
Das französische Filmschaffen ist durchaus eines
der «Grande Nation», dessen Verteidigung gegen
Hollywood auch ein Akt des republikanischen
Stolzes .In Frankreich sind die staatspolitische
und die kulturelle Komponente der Identität des
halb intensiver verbunden als in anderen west
europäischen Staaten.
In Deutschland wandelte sich die Kulturnation
lange nicht in eine Staatsnation, kulturelle und
staatspolitische Identität blieben lange getrennt.
Die deutschen Intellektuellen übernahmen die
philosophischen Vorstellungen der Französischen
Revolution, ohne sie in einen grossräumigen poli
tischen Rahmen einbringen zu können. In den
kleinräumigeren Strukturen der verschiedenen
Fürstentümer und Kleinstaaten gerieten die auf
klärerischen Ideale weniger in Widerspruch zur
ebenfalls kleinräumigeren kulturellen Identität.
Als der Nationalstaat auch in Deutschland ge
schaffen wurde ,hielten diese kleinräumigeren kul
turellen Identitäten der neuen Nation stand, die
staatspolitische und die kulturelle Komponente
der Identität blieben getrennter als in Frankreich.
Keine Nation «Europa »
Während nationale Gefühle im Sinne der kul
turellen Beheimatung auch künftig auf der natio
nalstaatlichen Ebene verankert sein werden, ent
wickelt sich im Rahmen der Europäischen Union
eine staatspolitische Identität, welche sich von der
kulturellen Komponente ablöst. Europa wird nie
zur «Nation»werden. Die republikanischen
Ideale der Aufklärung suchen nach 200 Jahren
noch zögernd, aber wohl unaufhaltsam den
Weg aus dem Gefäss der Nation heraus, das
Bündnis zwischen Republik und Nation geht sei
ner Auflösung entgegen.
Dabei verbreitet sich die staatspolitische Kom
ponente der Identität vertikal nach oben und
nach unten: Sowohl die übernationalstaatliche
Ebene Europa als auch Regionen innerhalb der
Nationalstaaten erfahren die Neubegründung
bzw. eine Aufwertung staatspolitischer Identität.
Im Gegenzug breitet sich die kulturelle Kompo
nente zunehmend befreit von ihrer Bindung an
die staatspolitische Komponente horizontal aus.
Verschiedene kulturelle Identitäten können ne
beneinander bestehen und durchaus intensiv ge
lebt werden. Sospricht man zum Beispiel von
den «Frankfurter Türken»: Das sind Kinder tür
kischer Eltern, aufgewachsen in Deutschland, die
sich staatspolitisch als Bewohner Frankfurts und
Deutschlands empfinden, kulturell aber auch als
Türken. So sind die staatspolitische und die kul
turelle Komponente der Identität geographisch
immer weniger «identisch», sie stützen sich verti
kal und horizontal immer breiter ab. In Europa
ermöglicht dies eine Integrationspolitik von
staatspolitischer Angleichung und kulturellem
Fremdbleiben, die sich gegenseitig bedingen.
Staatspolitische Integration ist möglich, weil im
kulturellen Bereich das «Fremdbleiben» gestattet
ist und umgekehrt. Oder praktisch ausgedrückt:
Das islamische Kulturhaus in der westeuropäi
schen Stadt ist unbedenklich, wenn die Träger
schaft die lokale öffentliche Ordnung und die
staatspolitisch definierten Menschenrechte in ihre
Identität integriert hat.
Abschied vom ethnischen Denken
Die Erfindung einer staatspolitischen Identität ohne den emotionalen Rahmen der Nation ist der Kerngehalt des Quantensprunges, der die west- europäische Geschichte ab 1945 und seit 1989 Europa kennzeichnet. Die Befriedung des Bal kans ist heute nur möglich durch die Schaffung einer staatspolitischen Identität, welche sich von der kulturellen ablöst und eine Alternative bildet zum monolithischen ethnischen Denken, das die Kriege der neunziger Jahre dominierte. Sowohl in Westeuropa als auch in Mittelosteuropa wurde und wird Nationalismus durch die Stärkung der staatspolitischen Komponente von Identität über wunden. Dieser wenn auch ungleichzeitige Vorgang bildet letztlich das gemeinsame Funda ment für die beiden Teile Europas. Er wird ge stärkt und beschleunigt durch die bevorstehende Osterweiterung der Europäischen Union. Der Quantensprung ist aber auch eine der Ur sachen für die zunehmende transatlantische Divergenz: Den Vereinigten Staaten wäre eine solche Entwicklung nicht zugänglich, da die Inte grationsmechanismen jenseits des Atlantiks dia metral anders funktionieren. Der jedenfalls bis vor einigen Jahren wirksame Mechanismus des «Melting Pot» verlangt vom Einwanderer die Entwicklung einer US-nationalen Identität, wel che vor allem moralisch und bisweilen auch multi religiös untermauert ist. Fremdbleiben ist deshalb nur beschränkt möglich. Dies liegt daran, dass die «staatslose» US-Gesellschaft praktisch keine staatspolitische Identität kennt und von Anbeginn vollumfänglich auf Einwanderung basiert hat. Der für Europa beschriebene Ablösungspro zess ruft jedoch auch Ängste hervor. Viele europafeindliche Strömungen bekämpfen die im Wachsen begriffene staatspolitische Identität auf europäischer Ebene mit genau denselben Ele menten, welche die Romantik im 18. Jahrhundert der Aufklärung entgegensetzte: Anstelle der Ver nunft wird die Emotion betont ,anstelle der uni versalen Betrachtungsweise das Kleinräumige, das Besondere und anstelle des Individuums die Gruppe. Antieuropäer wollen sowohl die verti kale Ausdehnung der staatspolitischen als auch die horizontale Ausdehnung der kulturellen Kom ponente von Identität verhindern, sie möchten die beiden Komponenten im Kreuzungspunkt konzentriert und in räumlicher Übereinstimmung festhalten. Dieses Denken basiert auf einer «exklusiv romantischen» Betrachtungsweise der Gruppenzugehörigkeit, es schliesst den «Ande ren» tendenziell aus. Exklusive Romantik kann eskalieren, zum Hass des «Anderen» führen, zur Vertreibung oder Vernichtung. Fremdenfeindlich keit und Rassismus sind von diesem Denken ge prägt, ebenso der Ethnonationalismus, der durch «ethnische Säuberungen»Staatsgrenzen in Über einstimmung bringen will mit den Grenzen mono-ethnisch besiedelter Gebiete.
Emotionale Verbundenheit
Indessen gibt es auch eine «integrative» Seite
der Romantik. Das romantische Element, welches
die Französische Republik vor 200 Jahren zu
Hilfe nahm, nannte sich zwar Nation. Aber diese
Nation vertrat faktisch nie exklusiv romantische
Inhalte, sondern sie stand immer im Zeichen von
individualistischen, universalen und rationalen
Prinzipien. Wenn Frankreich nach der Revolution
beginnend mit Napoleon Krieg führte, so lag
dem wohl hegemoniales Grossmachtstreben zu
grunde, nicht aber Verklärung der Nation im
Sinne ethnisch-romantischen Gruppen- oder
Stammesdenkens. Integrative Romantik basiert
auf einer emotionalen Verbundenheit mit allen
Menschen in ihrer individuellen Unverwechsel
barkeit. Diese Form der Romantik stellt nicht auf
die Eigenschaften der Menschen ab, welche sie
unterscheiden zum Beispiel Sprache, Rasse oder
Herkunft , sondern auf die allen Menschen ge
meinsame Würde als Individuum.
Die Philosophie der Menschenrechte ist der
höchste Ausdruck der so verstandenen integrati
ven Romantik. Und dieselbe Philosophie gilt
auch als eine der grössten aufklärerischen Errun
genschaften. Europa wird sein aufklärerisches
Erbe weiterführen können, wenn es auch künftig
der Versöhnung von aufklärerischem und roman
tischem Gedankengut einen Stellenwert einräumt.
Diese Versöhnung ist aber nur mit einer integrativ
verstandenen Romantik möglich, die im Sinne der
Französischen Revolution auf das Individuum ab
stellt. Gruppendenken verträgt sich nicht mit dem
europäischen Erbe der Aufklärung. Dies muss
einer der Ausgangspunkte auch für den europäi
schen Umgang mit der Minderheitenthematik
sein. So hält denn auch die Rahmenkonvention
des Europarates zum Schutz der nationalen Min
derheiten ausdrücklich fest, dass dieser Schutz
den Personen zukomme, welche Minderheiten
angehörten, und dass diese Personen ihre Rechte
einzeln oder zusammen mit anderen Personen
ausüben könnten. Dies bedeutet auch eine Ab
sage an das Konzept von Gruppenrechten.
Ethnonationalismus, Rassismus und Fremden
feindlichkeit werden vor allem durch die Stärkung
der staatspolitischen Komponente von Identität
ein gedämmt sowie ganz generell durch eine
immer vielfältigere Abstützung sowohl der kultu
rellen als auch der staatspolitischen Komponente,
die sich dadurch zunehmend voneinander ab
lösen. Beides trägt entscheidend auch zur Über
windung von Nationalismus bei und bildet die
Grundlage der europäischen Friedensordnung.
Der auf diesem Kontinent im Gange befindliche
Prozess der allmählichen Ablösung der staatspoli
tischen von der kulturellen Komponente von
Identität, welcher die Herausbildung einer ge
samteuropäischen staatspolitischen Identität er
möglicht, ist damit eng verbunden. Dabei wird
das tragfähige Amalgam zwischen Aufklärung
und Romantik, welches Frankreich vor 200 Jah
ren erfunden hat, in seinem Kerngehalt nicht
preisgegeben. So gesehen findet die Französische
Revolution heute auf gesamteuropäischer Ebene
ihre Fortsetzung. Deutschland bringt in diesen
Prozess eine seit je mehr getrennte Sicht der kul
turellen und der staatspolitischen Komponente
von Identität ein. Auch diesbezüglich ist der fran
zösisch-deutsche Motor der europäischen Inte
gration von Bedeutung.
*Gret Haller ist Juristin und arbeitete von 1996 bis 2000 als Menschenrechtsbeauftragte in Sarajewo. Sie ist heute publizis tisch tätig und lebt in Bern.