Gret Haller
Europa: Wiederaufbau des Zusammenlebens
Referat (gehalten in italienischer Sprache) anlässlich einer Tagung im Kloster Camaldoli / Italien, organisiert von der Zeitschrift «Il Regno» , 3. bis 5. Oktober 2003

Ich freue mich ganz besonders, dass ich dieses Referat an Ihrer Tagung in italienischer Sprache halten darf, die ja auch eine der offiziellen Sprachen meines Landes ist. Die Mehrsprachigkeit meines Landes hat mich sehr geprägt, sie hat dazu beigetragen, dass ich schon früh zur überzeugten Europäerin geworden bin. Ich möchte Sie an dieser Stelle versichern, dass ich zu jenen gehöre, die die Schweiz sehr gerne in der Europäischen Union sehen würden. Leider sind wir noch nicht so weit, und um so mehr danke ich Ihnen für die Einladung zu dieser Tagung. Ich bin gebeten worden, über den Wiederaufbau des Zusammenlebens in Europa zu sprechen. Dies werde ich nun versuchen, und ich werde dabei im wesentlichen von zwei Begriffen ausgehen: Vom Begriff der Nation und vom Begriff der Moral. Von diesen beiden Begriffen leite ich über zum Begriff des Rechts. Schliesslich werde ich noch kurz auf den Begriff der Würde eingehen.

Wenn wir vom «Wiederaufbau des Zusammenlebens» in Europa sprechen, haben wir zur Zeit vor allem die Osterweiterung der Europäischen Union vor Augen. Neben diesem heute recht friedlich und gewaltlos verlaufenden Wiederaufbau des Zusammenlebens sind zwei andere, weit weniger friedlich Phänomene zu erwähnen. Die Kriege im Balkan haben uns Europäer nochmals auf die Erfahrung des Nationalismus zurückgeworfen, wie man ihn nach dem Zweiten Weltkrieg überwunden glaubte. Und das andere Phänomen betrifft Westeuropa genau so wie Mittelosteuropa: Es ist die Fremdenfeindlichkeit, die sich manchmal auch mit Rassismus verbindet, und die das friedliche Zusammenlebens der Menschen in ganz Europa in Frage stellt. Zweifellos ist es jedoch richtig, in Europa vom Wiederaufbau des Zusammenlebens zu sprechen, und nicht etwa von einem neuen Aufbau. Es ist nichts völlig Neues, das sich hier anbahnt. Europa kann auf eine lange Tradition des Zusammenlebens verschiedener Völker und Nationen zurückblicken. Ich möchte sogar sagen, es sei gerade dieser gelebte Pluralismus, der Europa ausmacht.

Die Nation im Paradigmenwechsel

Ich komme nun zum Begriff der Nation. Seit dem zweiten Weltkrieg findet bezügliches dieses Begriffes in Europa ein eigentlicher Paradigmenwechsel statt. Noch im 18.Jahrhundert bezeichnete «Nation» ein rein kulturelles Phänomen, das mit Politik nichts zu tun hatte. Man bezeichnet dieses Phänomen noch heute als «Kulturnation» . Erst mit der französischen Revolution entstand die «Staatsnation» : Der republikanisch gewordene Staat hatte seine Identifikationsfigur verloren. Der französische König hatte zuvor gesagt «L'Etat s'est moi» , und nun war sein Nachfolger geköpft worden. Die Ideale der Aufklärung waren zu abstrakt, als dass man daraus eine Identität hätte ableiten können. Deshalb machte man aus der Kulturnation eine Staatsnation, und diese diente von nun an als identitätsstiftendes Gefäss für den republikanischen Staatsgedanken. So entstand der Nationalstaat.

Wir wissen alle, zu was für Entsetzlichkeiten die Nation führen kann, sobald sie in die Erscheinungsform des Nationalismus umkippt. In Europa führte das zu ebenso grausamen Gewaltakten wie einige Jahrhunderte zuvor, als dieser Kontinent durch Religionskriege erschüttert worden war. Wenn ich von einem Pardigmenwechsel im europäischen Verständnis der Nation gesprochen habe, der seit 1945 stattgefunden hat, so meine ich folgendes: Man knüpfte nach 1945 an jenen Schritt an, der in der französischen Revolution gemacht worden ist, und der den Staat mit der Nation verbunden hat. Aber man ging nun wieder in umgekehrter Richtung. Wenn wir heute von nationaler Identität sprechen, so meinen wir in Europa immer zwei Komponenten, die in dieser Identität enthalten sind. Einerseits ist es eine staatspolitische Komponente der Identität im Sinne des damals durch die französische Revolution geschaffenen Republikanismus. Andererseits ist es eine «nationale» Komponente der Identität, verstanden aber im Sinne der alten Kulturnation, d.h.es ist eigentlich die kulturelle Beheimatung. Diese beiden Komponenten wurden bis 1945 nie getrennt verstanden. Aber der Schock des zweiten Weltkrieges hat in Europa dazu geführt, dass die Nationalstaaten bereit waren, einen Teil ihrer staatspolitischen Identität auf die europäische Ebene zu übertragen und daselbst einen gemeinsamen Rechtsraum zu schaffen. Die nationale Identität, verstanden als kulturelle Beheimatung ist jedoch dort verblieben, wo sie historisch entstanden ist, nämlich auf der Ebene des Nationalstaates und sogar in noch kleinräumigeren regionalen Unterteilungen, wie zum Beispiel in Bayern oder in der Lombardei. Europa wird nie eine Nation werden. Europa darf keine nationale Identität anstreben, denn seine Stärke und seine Zukunft liegt in der langsam voranschreitenden Ablösung der staatspolitischen von der nationalen Komponente der Identität. Oder anders gesagt: In der Europäischen Union verdichtet sich und wächst eine staatspolitische Identität, welche ihre schicksalhafte Verbindung mit der nationalen Identität überwunden und abgestreift hat. Dies ist die Grundlage der europäischen Friedensordnung und damit auch die Grundlage für das friedliche Zusammenleben der Menschen. Der Paradigmenwechsel ist möglich geworden durch die schreckliche Erfahrung von zwei Weltkriegen.

Der Paradigmenwechsel folgte aber einem Muster, das in Europa schon lange bestand. Im westfälischen Frieden hatte man 1648 die Religionskriege beendet, indem man die Religionen in eine staatliche Ordnung einfügte. Die Religion wurde säkularisiert, das bedeutet, sie wurde eingebunden in eine übergeordnete rechtliche Struktur. Bekanntlich wurde damals in Europa auch das Völkerrecht erfunden, die Staaten einigten sich darauf, dass man die Religion auf diese Weise einbinden wolle. Auch dies war damals ein Paradigmenwechsel, und zwar einer, der sich bis heute auf Europa auswirkt. Diesem Muster folgte der Paradigmenwechsel, der seit 1945 stattfindet. Die Nationen wurden eingebunden in eine übergeordnete rechtliche Struktur. Im Rahmen der Europäischen Union entsteht nicht nur Völkerrecht, sondern es entsteht in einem nächsten Schritt nun auch supranationales Recht. Aber die zugrundeliegende Philosophie ist die selbe wie 1648. Deshalb spreche ich nicht nur von der Säkularisierung der Religion, welche in Europa 1648 stattfand, sondern ich spreche auch von der Säkularisierung der Nation, die seit 1945 in Europa stattfindet. Zwischen Nationalismus und gewaltorientierter Religionsausübung gibt es nicht nur Parallelen in der Form der Riten und Zelebrationen, sondern auch dem Nationalismuses liegt immer die Vorstellung des Auserwähltseins zugrunde, dasselbe also wie den Religionen vor ihrer Säkularisierung. Deshalb war es auch möglich, dass es nach der erfolgreichen Säkularisierung der Religion in Europa nochmals zu derart zerstörerischen Kriegen kommen konnte, in welchen die Nationen die Rolle übernahmen, welche vor 1648 die Religionen gespielt hatten. Wenn wir uns die Geschichte spiralförmig vorstellen, so könnten wir sagen, dass nach 1648 nochmals eine Rundumdrehung der Spirale stattgefunden hat, jetzt aber nicht mehr im Zeichen der Religion, sondern im Zeichen der Nation. So gesehen könnte man sagen, der westfälische Frieden habe erst nach 1945 seine effektive Umsetzung erfahren. Einen Gedanken in ähnlicher Richtung hat kürzlich Ulrich Beck geäussert, indem er einen Vergleich zog zwischen der Trennung von Staat und Religion im westfälischen Frieden und einer Trennung von Staat und Nation, die in einem kosmopolitischen Europa eine Antwort sein könne auf die «Welt(bürger)kriege des 20.Jahrhunderts» ("Die Zeit» vom 10.Juli 2003).

Erlauben Sie mir hier bitte noch eine Klammerbemerkung zu den Kriegen der Neunziger Jahre im Balkan, wo ich während fünf Jahren gearbeitet habe. Diese Kriege waren keine Religionskriege, sondern ihr Auslöser war ethnonationalistisch. Ethnonationalismus führt zu einer monolithischen ethnischen Identität. Er vernichtet die staatspolitische Komponente der nationalen Identität, und dadurch wird die nationale Identität zu einer nationalistischen. Oder wenn ich es umgekehrt formuliere: Nationale Identität ist nur dann vor dem Umkippen in Nationalismus geschützt, wenn sie auch eine starke staatspolitische Komponente aufweist. Deshalb kann der Balkan nur durch die Schaffung staatspolitischer Identität befriedet werden, denn nur so ist eine Befreiung möglich von der monolithischen ethnischen Identität, welche immer zur Gewaltanwendung führt. Im Balkan ist genau die selbe Entwicklung nötig, wie sie Westeuropa nach 1945 angestrebt hat, nämlich im weitesten Sinn die Säkularisierung der Nationen, ihre Einbindung in eine rechtsstaatliche Struktur. Sobald die staatspolitische Komponente der Identität wieder genügend stark geworden ist, können in den einzelnen Staaten wieder Bewohner verschiedener Herkunft zusammenleben. Nationalismus – und insbesondere Ethnonationalismus – will die Grenzen von Kulturnation und von Staatsnation mit Gewalt in Uebereinstimmung bringen. Kulturnationen gibt es im Balkan viele. Will man aus ihnen Staatsnationen machen, so führt dies unweigerlich zu Kriegen, denn viele Gebiete werden von verschiedenen Kulturnationen beansprucht. Dies rührt daher, dass sich in Mittelosteuropa die grossen Reiche viel länger erhalten haben als in Westeuropa, das osmanische Reich, das habsburgische und jenes der russischen Romanow. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Weg des Balkans darin besteht, die 200 Jahre im selben Tempo nachzuholen, welche Westeuropa seit der französischen Revolution erlebt hat. Zwar werden formal Nationalstaaten gebildet oder wiedergebildet, und sie sind durchaus souverän. Aber diese Vorgänge sind bereits mitgeprägt von der in Westeuropa im Gange befindlichen «Trennung von Staat und Nation» , um das Zitat von Ulrich Beck nochmals aufzugreifen. Und deshalb ist es für die Länder des Balkans auch so wichtig, eine Perspektive des Beitritts zur Europäischen Union zu haben, auch wenn dies eine sehr langfristige Perspektive ist.

Moral und Recht

Nun komme ich zum zweiten der beiden Stichworte, von denen ich ausgehen will, nämlich zur Moral. Und diese will ich sogleich anhand ihres Verhältnisses zum Begriff des Rechts charakterisieren. Lassen Sie mich mit einer These beginnen, die folgendermassen lautet: Im europäischen Sprachgebrauch ist «Recht» der Name für kollektiv gültig erklärte Moral. Ich gehe dabei von folgender Ueberlegung aus: Jeder Mensch trägt Gutes und Böses in sich. Es liegt in seiner moralischen Verantwortung, ob er das Gute oder das Böse zum Tragen bringt. Sollen moralische Kategorien aber allgemein verbindlich werden, müssen sie ein bestimmtes Verfahren durchlaufen. Es muss eine öffentliche Auseinandersetzung darüber geführt werden, was auch kollektiv als gut oder böse gelten soll. Diesen Vorgang nennen wir Demokratie, und das Resultat ist gültiges Recht. Das Gute und das Böse werden in verschiedene Rechtsnormen übersetzt, zum Beispiel das Gute in Grundwerte, das Böse in strafrechtlich verbotene Handlungen. Sobald das Gute und das Böse in gültiges Recht gefasst worden sind, werden sie nicht mehr als «gut» oder «böse» bezeichnet. Gesetz ist moralisch neutral. Ein Straftäter ist rechtlich strafbar, aber er ist nicht moralisch verwerflich. Deshalb eben ist «Recht» der Name für kollektiv gültig erklärte Moral. Recht entsteht immer durch gedanklichen Austausch: Einigen sich zwei Personen darüber, was zwischen ihnen gelten soll, so entsteht ein Vertrag. Der parlamentarische Austausch führt über Mehrheitsentscheide zu Gesetzen. Internationales Recht entsteht durch das Zusammenwirken von Staaten und wird in seinen Grundzügen von den nationalen Parlamenten genehmigt. Eine Person allein kann keinen Vertrag mit sich selber abschliessen, wie auch ein Parlamentarier allein kein Gesetz verabschieden kann. Für Europa steht seit der Erfindung des Völkerrechtes fest, dass auch im Verhältnis zwischen den Staaten Recht nur durch gedanklichen Austausch entstehen kann. Im Rahmen der Europäischen Union wird das selbe Verfahren auf die supranationale Ebene übertragen.

Hier trifft sich nun der Gedankengang zum Verhältnis zwischen Recht und Moral mit den vorangehenden Ueberlegungen zum Verhältnis zwischen Recht und Nation: Die Europäische Union verkörpert nicht nur die Ueberwindung des Nationalismus, indem sich eine staatspolitische Identität losgelöst von der nationalen Identität herausbildet, sondern der praktische Vorgang besteht darin, dass ein gemeinsamer Rechtsraum geschaffen wird, der über den Nationalstaaten steht. Mit dem Entscheid, diesen gesamteuropäischen Rechtsraum zu schaffen, wurde also nicht nur die staatspolitische Identität über die Bindung an die Nation hinausgehoben, sondern auch die Moral – soweit sie sich auf den Umgang mit der öffentlichen Ordnung bezieht – hat eine gesamteuropäische Dimension erreicht und sie kann deshalb nicht mehr nur national umschrieben werden. Weil es keine gesamteuropäische nationale Identität geben kann, sondern nur eine staatspolitische, wird damit die Gefahr gebannt, dass eine Nation allein moralische Kategorien definiert. Kollektiv gültig erklärte Moral tritt immer in der Form des Rechts auf, und dieses Recht wird immer demokratisch – das heisst unter Mitwirkung aller davon Betroffenen – gesetzt, sei dies nun über die Beteiligung des europäischen Parlamentes oder sei es über die Kontrolle der Regierungen der Mitgliedstaaten durch die nationalen Parlamente. Ich weiss natürlich, dass die Schaffung dieser demokratischen Mitwirkung in der Praxis der Europäischen Union ein Prozess darstellt, der noch lange dauern wird. Aber er ist im Gange. Entscheidend ist dabei die Ablösung der moralischen Grundlagen öffentlicher Ordnung von der Nation und ihre gesamteuropäische Festschreibung im Recht. Auch dies ist eine Grundlage der europäischen Friedensordnung und damit ebenso die Grundlage für das friedliche Zusammenleben der Menschen in Europa. Dieses Element ist für die Bewahrung der Friedensordnung in Europa von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Ein Blick über den Atlantik

Wie wichtig diese Grundlagen des Zusammenlebens für Europa sind, zeigt sich in den letzten Monaten vor allem und vermehrt in den transatlantischen Beziehungen, und mit transatlantisch meine ich im folgenden nicht die Beziehungen zum ganzen Doppelkontinent, sondern ausschliesslich jene zu den Vereinigten Staaten. Dazu möchte ich kurz etwas vorausschicken: Europa definiert sich nicht aus der Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten und sollte dies auch nicht anstreben. Dennoch kann ich mit jenen nicht einig gehen, welche auch heute noch die unerschütterliche ideelle Einheit des sogenannten «Westens» propagieren und ängstlich jene unterschiedlichen Werthaltungen negieren, die in den vergangenen Monaten sichtbar geworden sind. Am schönsten und sehr weise hat es der britische Historiker Eric Hobsbawm umschrieben, indem er sagte: «Es existiert eine europäische Identität, die in ihrem Selbstverständnis nicht deckungsgleich ist mir der amerikanischen. Gegenüber Amerikanern ist man europäisch, gegenüber anderen Europäern fühlt man sich als Engländer oder als Deutscher.» ("Die Zeit» vom 10.Juli 2003). Das wichtige an den transatlantisch unterschiedlichen Werthaltungen, die in den letzten Monaten deutlicher sichtbar geworden sind, liegt für Europäerinnen und Europäern weniger in der Wahrnehmung dieser Unterschiede, als vielmehr in der Erkenntnis, um was es sich bei dieser europäischen Identität eben letztlich handelt. Es geht nicht darum, sich abzugrenzen, sondern es geht darum, klarer zu verstehen, was wir selber sind, warum wir so sind und was wir im weltweiten Zusammenspiel der Staaten anzubieten haben. Vor diesem Hintergrund und in dieser Absicht möchte ich nun einige Elemente aufzeigen, in welchen sich die Vereinigten Staaten ganz anders entwickelt haben als Europa. Ich folge dabei den zwei Stichworten, von denen ich bereits gesprochen habe, den Begriffen der Nation und der Moral.

Als im ausgehenden 18.Jahrhundert Nationalstaaten gebildet wurden, war die Ausgangslage in Europa und in den Vereinigten Staaten bereits sehr unterschiedlich. Während die Religion in Europa bereits hundertfünfzig Jahre früher säkularisiert worden war, hatten die puritanischen Pilgerväter im selben Zeitraum jenseits des Atlantiks eine möglichst staatsfreie Gesellschaft begründet, denn sie hielten die verschiedenen Religionsgemeinschaften für die öffentliche Ordnung schlechthin, die gar keines Staates bedurfte. Längst nicht alle Auswanderer in die neue Welt hatten klare weltanschauliche Vorstellungen, viele trieb die wirtschaftliche Not oder die Abenteuerlust oder beides. Die wenigen aber, deren Auswanderung überhaupt weltanschaulich motiviert war, sie hatten Europa nach dem westfälischen Frieden genau deshalb verlassen, weil sie mit dem neuen Arrangement nicht einverstanden waren. Die Grundfrage des westfälischen Friedens wurde also für die Kolonien jenseits des Atlantiks umgekehrt beantwortet und gleichsam der Staat der Religion unterstellt. Bis heute prägend wurde die Vorstellung vom auserwählten Volk Gottes, getragen von der Ueberzeugung, dass es auf dieser Welt einen Kampf zwischen Gut und Böse gibt, und dass man diesen Kampf durch Sammlung der guten Kräfte gewinnen könne. Die unterschiedliche Ausgangslage diesseits und jenseits des Atlantiks führte zu einer unterschiedlichen Begründung der Nation, die sich bis heute auswirkt. Alle europäischen Nationen sind staatspolitisch begründet. Die US-amerikanische Nation begründet sich hingegen moralisch, was gelegentlich auch religiös untermauert wird. Staatspolitische Identität ist den Bewohnern der Vereinigten Staaten ziemlich fremd. Anstelle dessen ist die nationale Identität stark ausgeprägt, dies aber ohne eine staatspolitische Komponente, wie wir sie in Europa kennen. Der Vorgang, dass sich diese staatspolitische Komponente von der nationalen Komponente ablöst, ist deshalb für viele US-Amerikaner unvorstellbar. Nur in einer Klammer sei hier bemerkt, dass genau dies der Grund ist, warum die Vereinigten Staaten kaum in der Lage gewesen sind, die richtigen Schritte für die Befriedung des Balkans vorzuschlagen. Es fehlen ihnen einfach die geschichtlichen Voraussetzungen dazu.

Umgekehrt kennen die Bewohner der Vereinigten Staaten einen Umgang mit der Moral, der vielen Europäerinnen und Europäerin befremdlich erscheint. In den Vereinigten Staaten wird sehr häufig von der Moral direkt zur Tat geschritten, ohne den in Europa üblichen Schritt über das Recht. Dies ist sowohl im Innenverhältnis als auch im Aussenverhältnis dieser Nation zu beobachten. Denken wir nur an das Instrumentarium der Sammelklage. Sammelklagen werden fast nie rechtlich entschieden, sondern es wird in der Oeffentlichkeit so viel moralischer Druck aufgebaut, dass die beklagte Partei in einen Vergleich einwilligen muss, wenn sie den ökonomischen Ruin vermeiden will. Das Rechtsverständnis ist ein ganz anderes als in Europa. Auch im Aussenverhältnis wird von der Moral direkt zur Tat geschritten. Die Formel «Kampf gegen das Böse» definiert moralische Kategorien im nationalen Alleingang. Ein internationaler Austausch darüber ist nicht vorgesehen, man kann sich dieser Sicht nur anschliessen oder nicht anschliessen. Deshalb negiert diese Formel das Völkerrecht, sie setzt die Verfahren zur kollektiven Einigung über das Gute und dessen Umsetzung ins Völkerrecht ausser Kraft. Der selbe moralische Alleingang führt zur Ablehnung des Internationalen Strafgerichtshofes, in welchem die kollektive Einigung über das Böse und dessen Umsetzung in Völkerstrafrecht institutionalisiert worden ist. Die völkerrechtliche Einbindung wird ersetzt durch eine nationale: Der «Kampf gegen das Böse» wird vom US- Kongress abgesegnet, und internationale Terroristen werden statt vor ein internationales Gericht vor US-Militärgerichte gestellt. Im Aussenverhältnis kommt beim Umgang mit der Moral die moralische Begründung der US-amerikanischen Nation hinzu und verstärkt den direkten Schritt von der Moral zur Tat, welcher den für Europa unabdingbaren Weg über das Recht ignoriert. Dadurch werden die transatlantischen Unterschiede für europäische Betrachter in diesem Bereich heute so augenfällig. Und plötzlich realisieren wir, dass und warum eine europäische Nation allein gar nicht definieren kann, was das Gute und das Böse ist. Es liegt daran, dass sie diese Kategorien allein gar nicht ins Recht fassen kann, was nach europäischem Muster eben nötig ist, wenn Moral überaupt kollektive Gültigkeit erlangen will.

Beispiel Menschenrechtskultur

Nun möchte ich anhand der Kultur der Menschenrechte aufzeigen, wie sich das Innenverhältnis des europäischen Zusammenlebens und das Aussenverhältnis Europas ebenfalls wiederspiegeln. Wie ich bereits dargelegt habe, suchen heute die republikanischen Ideale der Aufklärung 200 Jahre nach der französischen Revolution – noch zögernd, aber wohl unaufhaltsam – den Weg aus dem Gefäss der Nation heraus. Das Bündnis zwischen Republik und Nation – oder wenn Sie wollen zwischen Staat und Nation – geht seiner Auflösung entgegen. Dabei verbreitet sich die staatspolitische Komponente der Identität vertikal nach oben und nach unten: Sowohl die übernationalstaatliche Ebene Europa als auch Regionen innerhalb der Nationalstaaten erfahren die Neubegründung bzw. eine Aufwertung staatspolitischer Identität. Im Gegenzug breitet sich die kulturelle Komponente – zunehmend befreit von ihrer Bindung an die staatspolitische Komponente – horizontal aus. Verschiedene kulturelle Identitäten können nebeneinander bestehen und durchaus intensiv gelebt werden. So spricht man zum Beispiel von den «Frankfurter Türken» : Das sind Kinder türkischer Eltern, aufgewachsen in Deutschland, die sich staatspolitisch als Bewohner Frankfurts und Deutschlands empfinden, kulturell aber auch als Türken ("Die Zeit» vom 14.März 2002). Die staatspolitische und die kulturelle Komponente der Identität sind also geografisch immer weniger «identisch» , sie stützen sich vertikal und horizontal immer breiter ab. Ich muss hier noch klarstellen, dass staatspolitische Identität nicht das selbe ist wie die formelle Staatsbürgerschaft. Diese trägt zwar zur staatspolitischen Identität bei, sie ist aber nicht eine unbedingte Voraussetzung für die staatspolitische Identität. Wenn ich in Paris bin, breitet sich in mir ein Teil der staatspolitischen Identität Frankreichs aus, obwohl ich nicht über die französische Staatsbürgerschaft verfüge. Ich sehe die grossen Statussymbole des französischen Republikanismus, und über meine europäische Identität sind sie auch ein Teil von mir. Jeder Franzose würde mir aufgrund seines Sprachgebrauches versichern, es handle sich bei meinem Gefühl um nationale Identität – «Identitée nationale» , aber das kann ja gar nicht sein, denn ich bin ja nicht Französin. Nationale französische Identität kann sich in mir also nicht breitmachen. Aber die staatspolitische Identität Frankreichs, die ja Europa stark geprägt hat, kann auch mich als Fremde einschliessen.

Mit dem Begriff des Fremdseins sind wir nun beim zentralen Punkt angelangt. Die horizontal immer breitere Abstützung der kulturellen Identität, verbunden mit der vertikalen Ausdehnung von staatspolitischer Identität, ermöglicht in Europa eine ganz bestimmte Form der Integrationspolitik. Diese verbindet staatspolitische Angleichung mit kulturellem Fremdbleiben. Diese beiden Phänomene bedingen sich gegenseitig. Staatspolitische Integration ist nur deshalb möglich, weil im kulturellen Bereich das «Fremdbleiben» gestattet ist und umgekehrt. Oder praktisch ausgedrückt: Das islamische Kulturhaus in der westeuropäischen Stadt ist unbedenklich, wenn die Trägerschaft die lokale öffentliche Ordnung und die staatspolitisch definierten Menschenrechte in ihre Identität integriert hat. So kann zum Beispiel die Religionsfreiheit nie die genitale Verstümmelung von Mädchen beinhalten, denn die universal gültigen Menschenrechte sind ein zentraler Teil der staatspolitischen Identität. In diesem Bereich gibt es keine Kompromisse. Denkbar ist hingegen durchaus das Tragen eines Kopftuches durch Frauen islamischen Glaubens, wenn es nicht als staatspolitischer Widerstand gedacht ist, sondern als Ausdruck der kulturellen Beheimatung. Zu dieser kulturellen Beheimatung gehört dann auch die religiöse Beheimatung, dies aber in einer Religion, welche sich in den Rahmen der öffentlichen Ordnung einfügt. Gerade die Kopftuchfrage erhellt auch einen interessanten innereuropäischen Aspekt der staatspolitischen Identität. Diese ist zwar auch zu einer gesamteuropäischen geworden, aber sie enthält vertikal alle Ebenen, auf denen sich die alten Nationalstaaten oder sogar die einzelnen Regionen durchaus unterschieden können. So muss die Kopftuchfrage in Frankreich und in Deutschland nicht unbedingt genau gleich entschieden werden. Lassen Sie mich einen Vergleich ziehen zu einem anderen Thema, welches nichts mit dem Islam zu tun hat. Könnte man sich vorstellen, dass es in Frankreich zu einer Auseinandersetzung gekommen wäre zur Frage, ob es erlaubt sei, in Schulräumen ein Kruzifix an die Wand zu hängen ? Nein, das ist unvorstellbar, aber in Bayern ist es nicht nur vorstellbar, sondern es ist effektiv geschehen. Das liegt daran, dass die staatspolitische Identität Deutschlands und jene Frankreichs unterschiedliche Schwerpunkte setzen, und dies ist auch richtig und soll so bleiben. Die staatspolitische Identität nach französischem Muster ist durch das Einbrechen religiöser Elemente viel rascher in Frage gestellt als jene nach deutschem Muster. Es gibt dann andere Bereiche, in denen das deutsche Muster viel hellhöriger ist als das französische, all dies bedingt durch die jeweilige Geschichte. Deshalb ist es durchaus möglich, dass ein Kopftuch-Entscheid in Frankreich anders ausfällt als einer in Deutschland und beides ist richtig.

Der Beitrag Europas

Meine Damen und Herren, ein Schlüssel dazu, wie die Universalität der Menschenrechte verbunden werden kann mit der Tradition der verschiedenen Kulturen, dieser Schlüssel liegt in Europa. Möglicherweise gibt es noch weitere Schlüssel zur Lösung dieser Aufgabe, welche in anderen Kontinenten gefunden wurden. Aber innerhalb jener Region, welche wir bisher als jene der «westlichen Werte» bezeichnet haben, liegt dieser Schlüssel in Europa. Der europäische Schlüssel liegt in der seit 1945 stattfindenden Herauskristallisierung einer staatspolitischen Komponente von Identität, welche sich von der nationalen Komponente ablöst. Und dies, nachdem sie sich sozusagen bereits drei Jahrhunderte früher von der religiösen Identität abgelöst hat, obwohl man das damals natürlich noch nicht mit diesen Worten umschrieb. Das Schlüsselwort heisst deshalb Säkularisierung, und ich wiederhole, was ich unter Säkularisierung verstehe: Es ist die Einbindung eines Phänomens in eine übergeordnete öffentliche Rechtsstruktur. Ich möchte nun zwei Beispiele dieser Identitätsablösung nennen, und zwar je eines für die Religion und eines für die Nation.

Zur religiösen Identität komme ich auf das Beispiel mit dem Kopftuch zurück. Wenn das Kopftuch Ausdruck einer säkularisierten Religionsausübung ist, welche die staatspolitische Ordnung akzeptiert und in welche die Religion eingebunden worden ist, dann wird das Kopftuch Teil einer kulturellen Beheimatung, es wird Ausdruck einer Zugehörigkeit zur einer Kultur, welche sich auch – aber nicht nur – in einer säkularisierten Religion manifestiert. Dieses Kopftuch ist nicht zu beanstanden. Stellt das Kopftuch hingegen eine Demonstration für nicht säkularisierte Religion dar, was eine Ablehnung der staatspolitischen Ordnung bedeutet, dann wird dieses Kopftuch gefährlich und kann nicht hingenommen werden, weil es die Religion an die Stelle der staatspolitischen Ordnung rückt.

Das andere Beispiel, welches die Identitätsablösung von der Nation anbelangt, wähle ich aus dem Bereich, der uns leider in den letzten Monaten sehr beschäftigt hat, nämlich die Auseinandersetzung um den Irakkrieg und seine Folgen. Dass viele europäische Staaten immer wieder ein UNO-Mandat im Irak verlangen und ihre Mitwirkung von einem solchen Mandat abhängig machen, zeigt deutlich, wie weit in diesen Staaten der Ablösungsprozess der staatspolitischen von der nationalen Identitätskomponente schon vorangeschritten ist. Es zeigt auch, wie existentiell dieser Prozess die Identität dieser Staaten geprägt hat. Die UNO verkörpert einen ersten, ganz kleinen und bescheidenen Ansatz staatspolitischer Identität auf weltweiter Ebene, welche über den Nationen steht. Nicht alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben diese Position vertreten. Aber in jenen Staaten, die diese Position vertreten, haben die Verantwortlichen gespürt, dass sie vor der eigenen Geschichte völlig unglaubwürdig dastünden, wenn sie nicht so handeln würden. Es wäre eine Desavouierung von 1648 gewesen, und auch eine Desavouierung der Zeit seit 1945. Warum der erwähnte Ablösungsprozess – also die Ablösung der staatspolitischen von der nationalen Identität – in Vereinigten Staaten gar nicht möglich ist, habe ich bereits erläutert. Der ekklatanteste Beweis für die historisch bedingte und auch bleibende Unfähigkeit der Vereinigten Staaten, eine Säkularisierung der Nation auch nur im entferntesten in Betracht zu ziehen, ist die völlig irrationale Bekämpfung einer grösseren Kompetenz der UNO im Irak. Sogar als es längst klar geworden war, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr in der Lage waren, die Besetzung des Iraks allein zu bewältigen, widersetzten sie sich geradezu ängstlich und in einer Art religiösem Eifer jeglicher Kompetenzausweitung für die UNO. Erst die ökonomische Ueberforderung hat ein Einschwenken auf etwas mehr UNO gebracht, aber es ist offensichtlich ein Einschwenken wider Willen.

Durch diese beiden Beispiele ist es – so hoffe ich – deutlich geworden, warum Europa ganz entscheidend dazu beitragen kann, dass universal gültige Werte wie die Menschenrechte vom Vorwurf befreit werden können, es handle sich um ein Konstrukt von «westlichem Imperialismus» . Dieser sogenannte «Westen» ist eben keine Einheit. Die europäischen Staaten sollten heute den Mut haben, dies zu analysieren, es offen und ohne Vorwurf gegenüber den Vereinigten Staaten zu formulieren und ihr Handeln danach auszurichten. Geschichte gehört zur Identität. Und genau so, wie Europa die eigene Geschichte respektieren muss, kann es auch die Geschichte der Vereinigten Staaten respektieren, welche zu deren heutigem Verhalten geführt hat. Aus ihrer eigenen Geschichte heraus wissen die europäischen Staaten, wie grundlegende Werte über die Nation hinausgehoben und auf eine höhere Ebene transferiert werden können. Sie wissen deshalb auch, wie Menschenrechte weltweite Glaubwürdigkeit erlangen können. Dies geschieht dadurch, dass sie einzig und allein aus der Würde des Menschen heraus begründet werden. Sie dürfen nicht mit einer bestimmten Religion in Verbindung gebracht werden – etwa mit der christlich-abendländischen -, sie dürfen auch nicht mit einer bestimmten Nation in Verbindung gebracht werden. Und vor allem müssen sie über das Recht eingefordert werden und nicht über die Moral, sonst verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit. Sie verlieren die Glaubwürdigkeit auch dann, wenn sie mit militärischer Gewalt eingefordert werden. Und sie verlieren die Glaubwürdigkeit dann, wenn sie mit missionarischem Unterton eingefordert werden. Das alles wissen die europäischen Staaten, oder sagen wir vielleicht besser: Sie können es aus der eigenen Geschichte wissen, wenn sie das wollen.

Die «Achse der Säkularisierung"

Erlauben Sie mir vor dem Schluss meiner Ausführungen noch eine Bemerkung zum Islam. Ich bin nicht Expertin zu diesem Thema, weshalb ich im Zusammenhang mit dem Islam lediglich das staatspolitische Element kurz ansprechen möchte. Auch im Raum der islamischen Kultur gibt es Staaten, welche die Religion säkularisiert haben, zum Beispiel die Türkei, zum Beispiel Aegypten oder andere Mittelmeer-Anreinerstaaten. Bitte entgegnen Sie mir jetzt nicht, dass diese Staaten ja nicht demokratisch seien: Auch in Europa geschah die Säkularisierung der Religion vor der Demokratisierung, und dazwischen liegen etwa 200 Jahre. Wir können also diesen Staaten keinen Vorwurf machen, dass sie noch nicht demokratisch sind. Wir können ihnen lediglich helfen, den Weg zur Demokratie zurückzulegen. Hingegen gilt es einen wichtigen Unterschied zum Islam zu berücksichtigen: Nach islamischer Vorstellung können Staat und Religion nicht getrennt betrachtet werden. Dennoch lässt die islamische Kultur die Säkularisierung der Religion offensichtlich zu. Meistens wird es der ökonomischen Entwicklung zugeschrieben, wenn und dass solches auch für Staaten im islamischen Kulturraum möglich wird. Es wird die Gleichung aufgestellt, Armut produziere in diesem Kulturraum fundamentalistischen Islamismus, während ökonomische Entwicklung die säkulare Formen der Religionsausübung ermögliche. Zweifellos stimmt diese Analyse, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Dass die meisten der Selbstmord-Terroristen vom 11.September 2001 aus begüterten Verhältnissen stammten, sollte uns diesbezüglich eigentlich eine Lehre sein. Es geht nicht nur um Oekonomie, es geht auch um Menschenwürde. Menschenwürde darf nicht verbunden sein mit einer bestimmten Religion, sie darf auch nicht verbunden sein mit einer bestimmten Nation. Wenn sich eine Religion als alleinseeligmachend aufspielt, so verletzt dies die Würde jener, die dieser Religion nicht angehören. Wenn sich eine Nation als alleinseeligmachend aufspielt, so verletzt dies die Würde jener, die dieser Nation nicht angehören und sich mit ihr auch nicht identifizieren wollen.

Dass auch die Islamische Kultur säkularen Formen der Religionsausübung zugänglich ist, obwohl dort Staat und Religion nicht getrennt betrachtet werden, liegt daran, dass die Formel der «Trennung von Kirche und Staat» eben gar nicht gleichgesetzt werden kann mit dem Begriff der Säkularisierung. Viele Leute verwechseln diese beiden Dinge, weshalb ich das hier noch klarstellen will. Die Trennung von Kirche und Staat ist eine der verschiedenen Methoden, wie die Einbindung der Religion in eine übergeordnete Rechtsordnung erreicht werden kann. Mit dieser Methode kann aber auch das Gegenteil erreicht werden, nämlich die Dominanz der Religion über den Staat. Die USA sind dafür ein Beispiel. Die Trennung schützt den einen Bereich vor dem anderen Bereich, aber das sagt noch nichts darüber aus, welcher Bereich den anderen dominiert. Säkularisierung kann übrigens auch durch die umgekehrte Methode erreicht werden. Denken Sie nur an das Beispiel der Briten, einen der säkularisiertesten Staaten Europas: Die sicherste Methode, die Religion der Staatlichkeit zu unterwerfen besteht darin, das Staatsoberhaupt auch zum Religionsoberhaupt zu machen. Das haben die Briten früh entdeckt und es hat sich dort bewährt. Deshalb schliesst die mangelnde Trennung von Kirche und Staat die Säkularisierung nicht zum vorneherein aus. Es genügt, dass die kirchlichen Führer um die Notwendigkeit einer übergeordneten Struktur wissen und dieses Wissen unter den Gläubigen verbreiten. Auch im islamischen Kulturkreis gibt es also Fachwissen, wie die Säkularisierung gefördert werden kann, nur werden in diesem Kulturkreis unter Umständen andere Begriffe verwendet als in Europa. Es geht jedoch nicht um die Begriffe, sondern es geht um den Inhalt, den diese Begriffe vermitteln. Die Gemeinsamkeit, welche das Fachwissen um die Säkularisierung in allen Kulturkreisen verbindet, ist ein bestimmtes Menschenbild, also eigentlich eine anthropologische Kategorie. Dieses Menschenbild existiert in restlos allen Kulturen dieser Welt, und es definiert die Würde des Menschen einzig und allein aus dessen Geburt als menschliches Wesen, abgelöst von Herkunft, Rasse oder Geschlecht, abgelöst dann eben auch von der Religion, und abgelöst schliesslich von der Nation. Ich nenne dieses Fachwissen einfach das Fachwissen um die Säkularisierung schlechthin, denn im Endeffekt fliessen alle diese Ablösungsprozesse in einem zusammen, der die Menschenwürde schliesslich nur noch aus dem Menschsein des Menschen ableitet. Ich erhoffe mir, dass all dieses Fachwissen sich weltweit immer mehr als eine Art «Achse der Säkularisierung» manifestieren kann. Ich bin überzeugt, dass das Fachwissen um die Säkularisierung der Religion in einem logischen Entwicklungsprozess auch zum Fachwissen um die Säkularisierung der Nation führt.

Europa hat in diesen Monaten eine ganz grosse Chance. Ich gehöre nicht zu jenen, welche den Irak-Krieg begrüsst haben, und ich gehöre schon gar nicht zu jenen wenigen abstrusen Denkern, welche sich über die Terroranschläge vom 11.September 2001 freuen. Aber in all dem Unglück sollten wir wenigstens auch die kleinen Freiräume für neue Erkenntnisprozesse würdigen. Dazu ein letztes: In den Vereinigten Staaten gab es immer einen Widerstreit zwischen eher europäisch geprägten Akteuren und solchen, welche die USA als eine Antithese zu Europa sehen. Während des Kalten Krieges setzten sich oft die europäisch orientierten Akteure durch, denn es galt, den Gegenspieler im Osten auch völkerrechtlich einzubinden, und dies ist eine ur-europäische Methode. Erst seit der Implosion der Sowjetunion können sich die europäisch denkenden Kräfte in den USA offenbar nicht mehr durchsetzen. Das kann aber wieder ändern. Die Chance der jetzigen Zeit für Europa liegt darin, dass in dieser Extremsituation erstmals gewisse grundlegende Dinge über historisch gewachsene transatlantische Unterschiede wahrgenommen werden können, die nicht nur für die eigene Identität der europäischen Staaten sehr wichtig sind, sondern die diesem Kontinent auch klarer aufzeigen, wo seine Aufgabe liegt und seine Verantwortung. Ich hoffe, dass die europäischen Staaten diese Chance wahrnehmen und sich diesem Lernprozess stellen. Genau so sehr hoffe ich aber, dass die Extremsituation bald ein Ende finden möge und sich europäisch orientierte Kräfte in den Vereinigten Staaten wieder vermehrt durchsetzen können. Und schliesslich habe ich eine dritte Hoffnung: Dass Europa nicht der Illusion erliegt, wenn die Extremsituation der Ablehnung europäischer Wertvorstellungen in den USA einmal zu Ende sei, so habe man transatlantisch wieder die alte Situation der wertemässigen Einheit des sogenannten «Westens» erreicht. Diese wertemässige Einheit gibt es nicht, es hat sie bis zum Ende des Kalten Krieges auch nur oberflächlich aus der Bedrohungssituation heraus gegeben.

Wenn Europa die «Achse der Säkularisierung» stärken will, so muss es Partner unter Säkularisierungswilligen in allen Kulturen der Welt suchen. Und den Vereinigten Staaten gegenüber sollten die europäischen Staaten immer bereit sein zu erklären, was sie anstreben, warum sie es anstreben und dass die eigene Geschichte notwendigerweise dazu geführt hat. Der US-amerikanischen Geschichte gegenüber sollte Europa Verständnis haben und dies auch zeigen. Aber die Aufgabe und die weltweite Verantwortung des «alten Europa» muss dabei immer oberste Maxime bleiben: Die europäischen Staaten sind es sich und Ihrer Geschichte schuldig, den europäischen Schlüssel zur Vereinbarkeit der universal gültigen Werte mit allen Kulturen dieser Welt zur Verfügung zu halten, und zwar weltweit zur Verfügung zu halten.

Die Unterlagen der Tagung in Camaldoli (in italienischer Sprache) und Exemplare der Zeitschrift «Il Regno» können bei folgender Adresse bestellt werden:

<gandolfi(at)dehoniane.it>