Auf dem Weg von einem US-amerikanisch zu einem europäisch geprägten Menschenrechtsverständnis
Es nun zehn Jahre her, seit das Friedensabkommen von Dayton unterzeichnet worden ist. Es setzte den Schlusspunkt hinter jahrelange Kriegsgräuel, ethnisch bedingte Vertreibungs- und Vernichtungsfeldzüge, welche man während einiger Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa nicht mehr für möglich gehalten hätte. Die Balkankriege haben Europa erschüttert. Nach dem Entsetzen des Zweiten Weltkrieges hat die Welt mit neuen Instrumenten im Bereich der Menschenrechte reagiert und Europa ging den Weg der Integration bis zur Europäischen Union, um den Schritt zur neuen Friedensordnung unhintergehbar zu machen. Auf die Gräuel in Bosnien&Herzegowina ist nicht mit der selben Konsequenz reagiert worden. Zehn Jahre nach Dayton müssen wir feststellen, dass die Befriedung Bosniens nicht gelungen ist. Zwar konnten die Waffen zum Schweigen gebracht werden, und es wird dank der internationalen Einbindung auch nicht mehr zu ihnen gegriffen werden. Und vergleicht man die Lebensqualität von heute in diesem Land mit der Zeit während des Krieges oder kurz danach, so liegen Welten zwischen diesen beiden Situationen. Vielen Leuten geht es heute persönlich ungleich besser als damals. Aber ein Aufbruch hat nicht stattgefunden, die Wirtschaft liegt darnieder und viele junge Leute wandern nach wie vor aus.
Vor allem aber hat Bosnien in diesen 10 Jahren nicht zu einer Identität gefunden. Es hat den Weg zu einer neuen – oder wiedergefundenen – Identität nicht beschreiten können, weil die durch das Friedensabkommen von Dayton geschaffenen Strukturen es gar nicht zuliessen. Wer nach dem Krieg in Bosnien vor Ort am Wiederaufbau des Landes mitgearbeitet hat, konnte sich – nach einer ersten Phase des an Euphorie grenzenden Enthusiasmus – schon bald Rechenschaft darüber ablegen, dass die staatspolitisch Ausgangslage gemäss Dayton den Aufbau und der Befriedung des Landes behinderte. Der neue Staat Bosnien&Herzegowina war genau entlang jener ethnischen Grenzen konzipiert worden, welche zum Krieg geführt hatten. Nicht nur wurden die Demarkationslinien zu neuen internen Grenzen im föderalen Staatsaufbau, sondern – weit folgenreicher – es fand bis hinunter zu den detaillierten Strukturen eine konsequente Ethnisierung statt, wie sie in der Geschichte Bosniens über Jahrhunderte hinweg nie existiert hatte. In den ersten Jahren der Umsetzung von Dayton erschien diese Fehlkonstruktion als begründbar. Ein anderes Resultat sei in Dayton mit den vormaligen Kriegsparteien nicht aushandelbar gewesen, wurde erläutert. Zehn Jahre danach sind nun andere Interpretationen möglich, insbesondere der Vergleich mit den Versuchen des Staatsaufbaus in Afghanistan und im Irak zeigt eine erhellende Gemeinsamkeit. In all diesen Krisenherden wurde versucht, eine Ordnungsstruktur über ethnische oder religiöse Gruppen zu etablieren. Alle diese Versuche des «Nation-Building» waren stark – wenn nicht ausschliesslich – von den Vereinigten Staaten geprägt.
Es wird oft ignoriert, dass es zwischen dem europäischen und dem US-amerikanischen Gesellschaftsverständnis grundlegende Unterschiede gibt. Seit Anbeginn der Auswanderung in die neue Welt wird Amerika durch einen strikten Staatsminimalismus geprägt, der sowohl religiös als auch wirtschaftlich begründet ist. Die englischen Puritaner hielten ihre Religionsgemeinschaften für die öffentliche Ordnung schlechthin, welche gar keines Staates bedurfte. (1) Sie haben die Staatlichkeit der Religion untergeordnet und damit das US-amerikanische Verhältnis zwischen Staat und Religion ein für alle mal und religionsübergreifend geprägt. Schon mehr als 100 Jahre vor der amerikanischen Revolution wurde somit eine andere Ausgangslage geschaffen als in Europa, wo 1648 durch den Westfälischen Frieden die umgekehrte Rangfolge festgeschrieben worden war. Ein Jahrzehnt bevor die französische Revolution die Gleichheit auf ihre Fahnen schrieb, klammerte die amerikanische Revolution die soziale Frage bewusst aus und führte 1787 zu einer Staatsform, in welcher deklariertermassen die besitzende Minderheit vor der nicht-besitzenden Mehrheit geschützt werden sollte. (2) Die calvinistische Prädestinationslehre trug das ihre zur gegenseitigen Verstärkung der religiösen und der wirtschaftlichen Begründung des Staatsminimalismus bei: Wenn schon zu Lebzeiten aufgrund des Erwerbs irdischer Güter ersichtlich sein soll, wer von Gott auserwählt ist, besteht eine auch normative Notwendigkeit für ein gewisses Mass an Ungleichheit zwischen den Individuen. (3) Staatlichkeit tendiert aber immer in Richtung eines gewissen Masses an Gleichheit. Aus all diesen Gründen ist im US-amerikanischen Gesellschaftsverständnis der Staat kein identitätsbildendes Phänomen, sondern es sind die vielfältigen Gruppen und Gemeinschaften, welche als Ueberbau den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleisten, eingebunden in eine nationale Identität, welche sich aber nicht staatspolitisch, sondern moralisch-religiös begründet, weil diese Nation für «das Gute» schlechthin steht. (4)
Wenn sowohl in Bosnien als auch später in Afghanistan und im Irak das «Nation-Building» nicht auf die Grundlage der staatspolitischen Identität des einzelnen Citoyen und der einzelnen Citoyenne gebaut worden ist, sondern sich auf die Gruppenidentität von ethnisch oder religiös definierte Gemeinschaften abstützt, so liegt dies ganz lapidar darin begründet, dass es im US-amerikanischen Denken Staatlichkeit auf der Basis von Citoyenneté gar nicht gibt. Nationale Identität wird in den Vereinigten Staaten begründet einerseits durch «das Gute», das die US-Nation in ihrer Selbstwahrnehmung verkörpert, und andererseits durch demokratische Identität. Diese leitet sich aber nicht wie in Europa aus dem Bewusstsein parlamentarischer Partizipation des Citoyen ab, sondern aus der Garantie verfassungsmässiger Rechte, welche der Einzelne jederzeit als Privatperson gerichtlich einklagen kann. US-Demokratie versteht sich vor allem darin, dass sich der Einzelne sein Recht jederzeit holen kann. Eine europäische verstandene staatsbürgerliche Verantwortung als Citoyen, dafür zu sorgen, dass der Staat im Sinne des Gesamtwohles tätig ist und die Rechte des Einzelnen gar nicht erst verletzt, hat die US-amerikanisch verstandene Privatperson nicht. Auch in Europa kann das Individuum seine Rechte einklagen, es stehen ihm bei behaupteten Menschenrechtsverletzungen sogar internationale Schutzmechanismen zur Verfügung. Aber die europäische Philosophie der Menschenrechte – die diesbezüglich auch jene der UNO massgeblich beeinflusst hat – verlangt vom Staat darüber hinaus, selber menschenwürdige Verhältnisse zu garantieren. Der Staat kann diesbezüglich durch internationale Gremien sogar zur Rechenschaft gezogen werden. Der so definierte Menschenrechtsbegriff ist um einiges anspruchsvoller als der US-amerikanische.
Beides, einerseits die mangelnde Citoyenneté im Sinne der mangelnden Verantwortlichkeit für staatliches Handeln, und dementsprechend eine nationalen Identität ausschliesslich über Gruppen- und Gemeinschaftszugehörigkeit, wie auch andererseits die Reduktion der Menschenrechte auf die Initiative des Einzelnen stellen einen Sonderfall im Sinne von spezifisch US-amerikanischen Eigenheiten dar. Sie sind für die Vereinigten Staaten historisch erklärbar, werden jedoch weltweit und insbesondere durch die europäische Tradition nicht geteilt – es sei denn, man gehe davon aus, dass sich im Rahmen der Globalisierung ein US-amerikanisches Rechts-, Demokratie und Gesellschaftsverständnis weltweit als Normalität durchsetzen werde. Dieser Zustand ist aber längst nicht erreicht. Im Abkommen von Dayton wurden die beiden erwähnten US-amerikanischen Eigenheiten konsequent umgesetzt. So wurden zahlreiche internationale Abkommen über die Menschenrechte als direkt anwendbar ins Landesrecht integriert, selbst solche, auf deren Bestimmungen man sich zur Zeit weltweit noch nicht direkt berufen kann. Es wurden vielfältige Instanzen geschaffen, bei welchen die Einzelnen behauptete Menschenrechtsverletzungen einklagen konnten. Zwischen diesen Institutionen gab es zum Teil überlappende Kompetenzen und sonstige strukturelle Unstimmigkeiten in den Rechtsgrundlagen. (5) Eine konsistente Rechtsordnung war den Architekten von Dayton offensichtlich weniger wichtig gewesen, wenn nur dem Individuum genügend Beschwerdemöglichkeiten offenstanden. Eine Anhäufung von zahllosen unkoordinierten Institutionen macht aber noch keinen funktionierenden Staat aus.
Die Kombination einer ethnisierenden Grundstruktur im Aufbau des Staates mit den umfassender Garantien für Rückkehrwillige hatte verhängnisvolle Konsequenzen. Es war gerade diese Kombination, welche die Möglichkeit eines europäisch verstandenen staatsbürgerlichen Bemühens der Citoyens und Citoyennes um das multiethnische Zusammenleben verbaute. Sie verwies die Individuen nämlich auf den US-amerikanisch verstandenen Kampf um ihr individuelles Recht, wenn sie das multiethnisches Zusammenleben durchsetzen wollten. So wurde die Verantwortung für das interethnische Zusammenleben in letzter Konsequenz individualisiert. Der Einzelne hatte keine Möglichkeiten, durch seine Mitwirkung als Citoyen Einfluss darauf zu nehmen, dass bessere Chancen für dieses Zusammenleben geschaffen wurden. Im Gegenteil musste er feststellen, dass in der staatlichen Organisation gewisse Strukturen säuberlich entlang ethnischer Trennlinien geschaffen worden waren. Umgekehrt verfügten die Individuen theoretisch über alle Garantien und Rechte, welche es ihnen ermöglichen sollten, der Einengung durch die ethnisierende Grundstruktur zu entgehen und sich an ihrem ursprünglichen Wohnort niederzulassen, selbst wenn dort inzwischen ausschliesslich oder mehrheitlich Angehörige einer anderen Volksgruppe ansässig waren, die sich gegen ihre Rückkehr zur Wehr setzten. Genau besehen erwartete man von den Bewohnern dieses Landes, dass sie auf der individuellen Ebene – nämlich durch die Rückkehr an ihre früheren Wohnorte – genau das fertigbringen sollten, was das Abkommen von Dayton auf der strukturellen – und kollektiven – Ebene des Staates selber verhinderte.
Mit einem solchen Vorgehen überfordert man nicht nur die Individuen – insbesondere eine kriegstraumatisierte Bevölkerung -, sondern die Menschenrechtskultur als Ganzes wird in Mitleidenschaft gezogen, weil jede verhinderte Rückkehr vor allem oder gar ausschliesslich als eine Verletzung der Menschenrechte erscheint. Das ist sie zwar tatsächlich auch, insofern sie eine Verweigerung der Bewegungsfreiheit darstellt. Aber in Bosnien war die verhinderte Rückkehr vor allem eine Folge der staatlichen Organisation. Menschenrechtskultur kann auch dadurch geschwächt werden, dass gleichsam eine Inflation von Menschenrechtsverletzungen inszeniert wird. Zusammenfassend könnte Dayton als ein Versuch bezeichnet werden, eine Bevölkerung mit europäischer Tradition zu einem US-amerikanischen Rechts- und Demokratieverständnis umzuerziehen, basierend auf dem US-amerikanischen Grunddogma des Staatsminimalismus. Staatspolitisch und staatsrechtlich betrachtet wurde die Verantwortlichkeit für die Umsetzung der Menschenrechte individualisiert und damit «entstaatlicht»: Die – für die weltweite Umsetzung der Menschenrechte unabdingbare – Verantwortlichkeit des Individuums, als Citoyen und Citoyenne dafür zu sorgen, dass der Staat für alle Bewohner seines Territoriums auch die Menschenrechte garantiert, wurde letztlich negiert. Stattdessen wurde gleichsam ein «Nation-Building» durch das Mittel der individuellen Wieder-In-Besitz-Nahme von Land propagiert. (6) Das Friedensabkommen von Dayton schuf dazu ein recht ausgeklügeltes System. Später gingen die Vereinigten Staaten holzschnittartiger vor: In Afghanistan lagen nach der Vertreibung des Taliban-Regimes eigentliche Stammesstrukturen vor, die den Grundraster bildeten für eine Organisation auf Gruppen- und Gemeinschaftsbasis. Und im Irak schliesslich fand eine Aufsplitterung in drei ethnisch und religiös definierte Gemeinschaften statt, an welcher dieser Staat dereinst noch scheitern könnte.
Weltweit und langfristig gesehen, bilden sich Ordnungsstrukturen in der Regel so heraus, daß sich eine Gesellschaft langsam vom Stammeswesen zum Staatswesen entwickelt. Wenn staatliche Strukturen zusammenbrechen, so bedeutet dies immer eine Rückwärtsbewegung vom Staatswesen ins Stammeswesen. US-»Nation-Building» versucht tendenziell immer, den Direktsprung von diesem Stammeswesen zur staatsminimalistischen Gesellschaft zu inszenieren. Doch dieser Direktsprung ist nicht möglich, er hat auch in der Ideengeschichte der Vereinigten Staaten nicht stattgefunden. Der US-amerikanische Staatsminimalismus konnte sich nur als Antithese zum europäischen Staatsverständnis herausbilden, sein ideengeschichtlicher Entwicklungsweg führt über die Stationen »Stamm – Staat – staatsminimalistische Gesellschaft«, wobei die ersten beiden Entwicklungsstationen in Europa und gemeinsam mit den Europäern stattfanden, noch vor dem Einsetzen breiter Auswanderungsbewegungen im 17.Jahrhundert. Das Denken in Gemeinschaften, wie es für die staatsminimalistische US-Gesellschaft typisch ist, liegt genau besehen zu nahe beim Stammesdenken , als daß der direkte Übergang möglich wäre. Wohl kann ein einzelner Mensch diesen Direktsprung schaffen, wenn er aus einer Stammesgesellschaft in die Vereinigten Staaten auswandert. Dort findet er aber eine festgefügte Struktur vor, in welcher der gesellschaftliche Zusammenhalt durch andere Phänomene gewährleistet wird als durch die europäisch verstandene Citoyenneté. In Ländern, in denen die staatlichen Strukturen zusammengebrochen sind, führt kein Weg am Wiederaufbau der Staatlichkeit vorbei. Nur in der Staatlichkeit und auf der Basis der Citoyenneté können verfeindete Stämme, Ethnien oder religiöse Gruppen befriedet und wieder eingebunden werden. Ob später einmal der Weg zu einer staatsminimalistischen Gesellschaft eingeschlagen wird, muss zum Zeitpunkt des «Nation-Building» offenbleiben und sollte vor allem der späteren Entscheidung der betroffenen Bevölkerung vorbehalten werden.
Europäische Akteure tun gut daran, sich mit dem unterschiedlichen Gesellschaftsverständnis wie auch mit dem unterschiedlichen Menschenrechtsverständnis in den Vereinigten Staaten auseinanderzusetzen, bevor sie zur Tat schreiten, insbesondere zu gemeinsamen Aktionen mit den USA. Zehn Jahre nach dem Abschluss des Friedensabkommens von Dayton kann man nur hoffen, dass Bosnien nicht noch länger unter der mangelnden Kenntnisnahme der transatlantischen Unterschiede durch die internationale Gemeinschaft zu leiden hat. In Washington ist der zehnte Jahrestag des Abkommens von Dayton offiziell gefeiert worden. Heute ist es jedoch offensichtlich, dass das Abkommen von Dayton in Lande Bosnien selber vor allem durch ethnonationalistische Führer verteidigt wird, deren Absichten der darin verankerte Staatsminimalismus zustatten kommt. Wer hingegen die fehlende Citoyenneté als einen der Hauptmängel erkannt hat, will in Bosnien inzwischen klar zu neuen Ufern aufbrechen und Dayton hinter sich lassen. Da stimmt die Berichterstattung aus dem Lande selber doch zuversichtlich: Die bosnischen Medien hätten über die Feier in Washington eher zurückhaltend berichtet – weit grössere Bedeutung als dem symbolischen Treffen in Amerika werde den Bemühungen um die europäische Integration beigemessen. (7)
1) vgl. dazu Gret Haller, Politik der Götter. Europa und der neue Fundamentalismus, Berlin 2005, S. 19 ff
2) Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist papers. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig. Darmstadt 1993, S. 11 f., 43 und 100
3) vgl. dazu Rainer Prätorius, In God We Trust, Religion und Politik in den U.S.A., München 2003, S. 38 ff
4) Erhard Eppler beschreibt die Bedeutung solcher Gemeinschaften mit einem Hinweis auf Alexis de Toqueville, Auslaufmodell Staat?, Frankfurt a.M. 2005, S. 48
5) vgl. dazu Gret Haller, Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion, Berlin 2002, S. 107 ff ; englische Uebersetzung erscheint 2006
6) «Nation-Building» durch individuelle Landnahme bildet einen zentralen Bestandteil der amerikanischen Geschichte, wurde doch Nordamerika von der Ostküste aus durch individuelle «Treckings» in Richtung Westen besiedelt. Dieses «Going West» stellt im globalen Vergleich aber eine US-amerikanische Besonderheit dar.
7) Neue Zürcher Zeitung vom 24. November 2005