Im April 2003 weilte ich in Boston, um an einem Gespräch teilzunehmen über den Umgang mit den Menschenrechten in Europa und den Vereinigten Staaten. Der Irak-Krieg hatte eben begonnen und die Menschen waren sehr aufgewühlt. Ein in Boston lebender Bekannter mailte mir ein Zitat mit der Frage, ob ich wüßte, von wem dieses Zitat stamme. Es lautete folgendermaßen: »Natürlich will kein Volk einen Krieg. Aber schließlich bestimmen die Führer eines Landes dessen Politik, und es ist eine einfache Sache das Volk darauf einzustimmen, ob es sich nun um eineDemokratie, eine faschistische Diktatur, ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handle. (...) Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.« Wie die meisten Personen, die mein Bekannter diesem Wissenstest unterzog, vermutete ich, das Zitat beziehe sich auf die aktuelle Situation in den Vereinigten Staaten, wo sich vor allem an der Ostküste auch Widerstand gegen den Krieg regte. Mein Gesprächspartner klärte mich dann aber auf, das Zitat sei mehr als fünfzig Jahre alt, es stamme vom Nationalsozialisten Hermann Göring. Ein US-amerikanischer Gerichts-Psychologe beim Nürnberger Prozeß hatte Göring in seiner Zelle erklärt, daß es einen Unterschied gebe zwischen Demokratien und Diktaturen. In den Vereinigten Staaten könne nur der Kongreß eine Kriegserklärung beschließen. Göring widersprach ihm mit genau diesem Zitat, das im 1947 erschienen Tagebuch des Psychologen widergegeben ist. (1) Dies ist wohl eines der prägnantesten Beispiele dafür, wie verheerend die Angsterzeugung in der Politik eingesetzt werden kann und auch immer wieder eingesetzt worden ist.
Vorweg möchte ich klarstellen, dass ich nicht von jener Angst spreche, welche für uns sehr hilfreich ist, weil sie uns vor den Gefahren des Alltags beschützt, wie zum Beispiel die Angst vor schnell fahrenden Autos im Strassverkehr. Ich spreche von der aus politischen Motiven kreierte Angst, welche den Menschen nichts nützt, sondern ihnen vielmehr schadet. Heute ist es vor allem die Angst vor Terroranschlägen, welche politisch mißbraucht wird. Die Notwendigkeit, den Terrorismus zu bekämpfen, soll hier keineswegs in Frage gestellt werden. Dies hat aber mit polizeilichen und geheimdienstlichen Methoden zu geschehen und in effizienter internationaler Zusammenarbeit. Sogar in demokratischen Staaten wird heute die Freiheit des Einzelnen und werden die Menschenrechte überhaupt unter dem Titel der Terrorismusbekämpfung massiv einschränkt. Die Menschen in diesen demokratischen Staaten würden so etwas nie akzeptieren, wenn ihnen die Angst vor Terroranschlägen nicht tagtäglich eingehämmert würde. Vor allem wird ihnen gesagt, die Bekämpfung des Terrorismus sei ohne die Einschränkung der Freiheit und der Menschenrechte nicht möglich, aber dies ist offensichtlich falsch. Das Konzept der Menschenrechte wurde nicht zugunsten jener Menschen erfunden, welche über großes gesellschaftliches Ansehen verfügen. Es wurde eben gerade zugunsten jener geschaffen, die in der moralischen Wertung schlecht dastanden, von denen man also gar nicht recht wußte, ob man sie überhaupt als Menschen betrachten sollte: Sklaven, Fremde, Angehörige anderer Rassen, Bettler oder Straftäter. In der heutigen Zeit kann man deshalb einen klaren Maßstab aufstellen, mittels welchem sich die Umsetzung der Philosophie der Menschenrechte in einem Staat messen läßt. Es ist der Umgang mit mutmaßlichen Terroristen, mit jenen Menschen also, vor deren Handlungen der Bevölkerung am meisten Angst eingejagt worden ist. So erlaube ich mir hier eine fast zynisch anmutende Bemerkung: Angstmacherei in der Politik hat immerhin den einen Vorteil, daß sie uns wenigstens eine zuverlässige Meßlatte liefert für die Verwirklichung der Menschenrechte in einer Gesellschaft. Die Menschenrechte sind in einer Gesellschaft in dem Masse umgesetzt und akzeptiert, in welchem sie auch für jene Menschen unumstößlich garantiert sind, vor denen die Gesellschaft am meisten Angst hat.
Wenn sogar in demokratischen Staaten Freiheit und Menschenrechte unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung eingeschränkt werden, so darf man sich nicht wundern, wenn diese Methode von nicht demokratischen Ländern erst recht gern kopiert wird. Wir sind heute damit konfrontiert, daß Diktatoren alle ihnen nicht genehme politische Aktivitäten als Terrorismus bezeichnen. Einige demokratische Staaten haben ihnen gezeigt, wie man Freiheit und Menschenrechte für jene Menschen außer Kraft setzt, vor welchen man Angst hat. Wenn Diktatoren nun alles als Terrorismus definieren, was sich ihnen nicht vorbehaltlos unterwirft, so ist das eine logische Folge dessen, was ihnen die demokratisch gewählten Machthaber vorgemacht haben. Der Mechanismus, der in den erwähnten demokratischen Staaten abläuft, ist nichts anderes als eine Remoralisierung der Menschenrechte. Die Philosophie der Menschenrechte geht davon aus, daß es keine guten und schlechten Menschen gibt. Menschenrechte kann es nicht geben ohne die strikte Trennung von Recht und Moral. Wie bereits erwähnt, wurde das Konzept der Menschenrechte nicht zugunsten der moralisch »guten« Menschen erfunden, sondern eben gerade zugunsten aller anderen. Die Philosophie der Menschenrechte besagt, daß jeder Mensch seine Würde hat, einfach schon aufgrund seiner Geburt als Mensch. Wenn eingeteilt wird in gute und böse Menschen, so geschieht dies immer in der Absicht, den »bösen« Menschen die Menschenrechte abzusprechen. Durch die Moralisierung der Menschenrechte wird aber die Idee der Menschenrechte als solche hinfällig, und sie schützen dann auch jene nicht mehr vor Menschenrechtsverletzungen, welche bei der verhängnisvollen Einteilung in Gut und Böse auf die Seite der Guten geschlagen worden sind.
Jetzt möchte ich beim Begriff der Moralisierung bleiben, damit aber auf einen ganz anderen Bereich der Angst zu sprechen kommen. In Europa erhält zur Zeit ganz langsam eine Gleichung an Bedeutung, welche zwar nicht mathematisch genau ist, aber um so verhängnisvoller. Sie lautet »arm=faul=moralisch verwerflich«, und sie wird nie offen ausgesprochen, sondern sie verbreitet sich fast wie ein Unkraut mit unterirdischen Wurzeln im Bewußtsein der Menschen. Inwieweit diese Gleichung in Asien und Afrika Geltung erlangt hat, kann und will ich hier nicht beurteilen. Ich spreche nur von Europa und den Vereinigten Staaten, und diesbezüglich hat Richard Rorty in einem Interview einen interessanten Zahlenvergleich aufgestellt: »Kürzlich gab es eine internationale Meinungsumfrage zum Thema, ob die Armen arm seien, weil sie faul sind oder weil sie durch die Gesellschaft benachteiligt worden sind. Ungefähr 25 Prozent der Europäer vertraten die Meinung, die Armen seien faul, bei den Amerikanern waren es 64 Prozent. Unter diesen 64 Prozent befinden sich offensichtlich viele, die für lächerlich geringe Löhne arbeiten, aber sich weigern, sich für arm zu halten. Denn wenn man einen Job hat, dann ist man doch nicht faul, umgekehrt muß jeder, der das nicht schafft, faul sein.« (2) Die Werthaltung mit der erwähnten Gleichung kommt aus den Vereinigten Staaten nach Europa. Ich erwähne sie hier deshalb, weil sie viel zu tun hat mit Angst- und Bedrohungsgefühlen, welche durchaus in politischer Absicht erzeugt werden. Nicht in Europa, aber in den Vereinigten Staaten steht der erwähnten Gleichung »arm=faul=moralisch verwerflich« eine Schwestergleichung zur Seite. Diese lautet ungefähr so: »reich = arbeitsam = gut = gottgefällig = auserwählt«. Aber diese Gleichung wird nur selten so beim Namen genannt, sie ist irgendwie unbewußt oder halb bewußt präsent. Rudolf Affemann, der als Deutscher lange in den Vereinigten Staaten gelebt hat, umschreibt die Situation sehr anschaulich: »In Amerika steht der Gewinner in strahlendem Glanz. Auch kleine Erfolge werden geschätzt. Wer nicht gewinnt, hat bereits ein wenig den Geruch des Verlierers. Richtige Verlierer haben in den USA schlechte Karten. Im Unterschied zu Europa können sie nicht mit der Solidarität der Gesellschaft rechnen.« (3) Daß diese Werthaltungen letztlich religiös bedingt sind, ist im Kontext meines Themas hier nicht von Bedeutung, jedenfalls vordergründig nicht. Von Bedeutung ist hingegen eine Moralisierung des Verhaltens der Menschen im wirtschaftlichen Bereich. Es wird bewußt ein moralischer Druck erzeugt, wirtschaftlich leistungsfähig zu sein oder sogar wenn möglich aufzusteigen. Und parallel dazu verbreitet sich eine Angst der Menschen, daß sie zum Versager werden und durch die Maschen des sozialen Netzes fallen könnten. Diese Angst der Menschen ist in einem System der moralisierten Wirtschaftsbeziehungen durchaus gewollt, sie soll die Menschen fleißiger machen und damit moralisch besser. Zu beobachten ist dieser Mechanismus nicht nur etwa bei schlecht ausgebildeten Leuten, welche direkt von der zunehmenden strukturellen Arbeitslosigkeit betroffen sind oder sonstwie am Rande der Gesellschaft leben. Es gibt diesen Mechanismus genauso in der höheren Bildung. Wenn Hochschulbildung in höchster Qualität abhängig wird von Beiträgen der Studierenden, welche nur noch um den Preis der eigenen langjährigen Verschuldung aufgebracht werden können, so ist dies nichts anderes als eine lebenslange moralische Disziplinierung. Übrigens ist die Gleichung »arm=faul=moralisch verwerflich« um so erfolgreicher wirksam, je tiefer sie in den unbewußten Schichten der allgemeinen Anschauungen abgespeichert werden kann. Wenn es »einfach so ist«, und niemand hinterfragt, warum es so ist, dann hat die Gleichung ihren Zweck erreicht.
Angsterzeugung und moralisches Niederhalten des Individuums sind ein wichtiger Bestandteil der so genannt «westlichen» Kulturen. Es ist deshalb schwierig sich als Individuum von diesen Phänomenen zu befreien. Somit haben wir es hier nicht nur, aber auch – mit einem politischen Problem zu tun, denn Politik ist eine öffentliche Angelegenheit, die auch auf dem Gedankenaustausch zwischen den Individuen beruht. Es ist deshalb sinnvoll, daß wir auch nach öffentlichen Wegen der Angstüberwindung Ausschau halten. Und einen ersten Ansatz sehe ich darin, daß man die Angsterzeugungsmechanismen überhaupt erkennt. Was die politisch motivierte Erzeugung von Angst anbelangt, läßt sich dieser Prozeß am besten mit dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern illustrieren, welches uns Hans Christian Andersen erzählt. Zwei Betrüger haben dem Kaiser erklärt, sie würden für ihre sehr schönen Kleider anfertigen, welche aber die Eigenschaft hätten, daß alle dummen und unfähigen Leute sie nicht sehen könnten. Der Kaiser ist nicht nur vernarrt in schöne Kleider, sondern er möchte verständlicherweise herausfinden, welche seiner Minister dumm oder unfähig seien. Kein Minister will als dumm oder unfähig erscheinen, und alle rühmen des Kaisers neue Kleider. Sogar das ganze Volk rühmt die Schönheit dieser Kleider, bis endlich ein kleines Kind die Wahrheit sagt, daß nämlich der Kaiser nackt sei. Die beiden Betrüger haben nur den Anschein erweckt, ihm neue Kleider anzulegen, und weil er selber ebenfalls nicht dumm oder unfähig sein wollte, hat er seinerseits den Anschein erwecken wollen, er sehe seine neuen Kleider.
Wenn wir nun dieses wunderschöne Bild auf die beiden erwähnten Beispiele übertragen, so wird es zwar etwas komplizierter. Dennoch ist das Bild zutreffend. Wenn das Kind sagt, »der Kaiser ist ja nackt«, dann bedeutet dies im Zusammenhang mit der Bedrohung durch den Terrorismus eine kühle, rationale Beurteilung. Muß die Freiheit der einzelnen Menschen wirklich so eingeschränkt werden, damit Terrorakte wirksam bekämpft werden können? Der Umgang der britischen Gerichte mit dieser Frage ist ein positives Beispiel für diese Rationalität. Die Briten haben mit der habeas-corpus Akte ja die längste Tradition der Freiheitsrechte im Rahmen der sogenannten «westlichen» Welt. Und was die Menschenrechte von terrorverdächtigen Personen anbelangt, heißt »der Kaiser ist ja nackt« in der Übersetzung ganz einfach »Nein«: Das Folterverbot gilt absolut, es gilt jedem Menschen gegenüber, weil es in diesem Zusammenhang keine guten oder schlechten Menschen geben kann. Diese Feststellung ist nicht emotional, sie beruht auch nicht auf Erbarmen mit der Person des Verdächtigten. Sie beruht ganz einfach auf der Einsicht, daß die Würde des Menschen in jedem Menschen zu Ausdruck kommt, ganz unabhängig davon, woher dieser Mensch kommt und was er bisher getan hat. Und die Feststellung ist auch insofern sehr rational, als sie auf eine klare Einsicht zurückgeht: Wenn der des Terrorismus Verdächtigte der Folter ausgesetzt wird, dann sei es nur noch ein kleiner Schritt, bis je nach den Umständen auch ich selber dieses Schicksal erleiden könnte. Mit der Feststellung, das Folterverbot habe absolut zu gelten, setze ich mich immer auch für meine eigene Menschenwürde ein, sie ist von der Würde der anderen Menschen gar nicht zu trennen.
Und was bedeutet »der Kaiser ist ja nackt« hinsichtlich der Moralisierung im Wirtschaftsleben? Daß wir alle unseren Lebensunterhalt irgendwie organisieren müssen, versteht sich von selbst. Aber auch wenn wir rationale Abklärungen treffen, wie dies am besten und in einer Weise möglich ist, die mit unserer Persönlichkeit am ehesten harmoniert, können wir die moralische Komponente wenigstens für uns selber ablehnen. Wer kann mir befehlen, welche Statussymbole für mich wichtig seien? Wer kann mir befehlen, daß die Auseinandersetzung mit dem richtigen Lifestyle mindestens einen Viertel meiner Lebensenergie in Anspruch nehmen soll? Und noch viel wichtiger wer kann mir befehlen, daß ich die Hälfte der Zeit, welche nicht durch die Erwerbsarbeit in Anspruch genommen wird, dazu verwenden soll, Preisvergleiche anzustellen, um die billigste Variante herauszufinden, mit welcher ich telefonieren kann? »Der Kaiser ist nackt« gilt auch diesbezüglich. Vieles ist eine Frage von Fremdbestimmung oder Autonomie. Angst ist sehr oft ein Phänomen, welches durch Fremdbestimmung hervorgerufen wird. Wenn wir uns aber mit den politischen Implikationen von Angst auseinandersetzen, dann geht die Fragestellung etwas weiter als nur die persönliche Befreiung von Angst. Die Angsterzeugungsmechanismen überhaupt zu erkennen, dies ist das eine. Das andere und weiterführende geht dahin, diese Dinge auch von Zeit zu Zeit öffentlich zu formulieren, denn Politik ist Öffentlichkeit.
1) Gustave M.Gilbert, Nürnberger Tagebuch, Frankfurt a.M. 1962, S. 270, Titel der Originalausgabe: Nuremberg Diary, New York 1947
2) du Zeitschrift für Kultur, No. 750, Oktober 2004, S. 97
3) Rudolf Affemann, Doppelgesicht USA. Studien und Erfahrungen eines Deutschen in Amerika. Leonberg 2004, S. 24.