Bei der Fragestellung, ob der Begriff des «Verantwortungsvollen Unternehmens» einen Widerspruch in sich selber darstelle, kann es bei dieser Fragestellung offensichtlich nicht um jene Verantwortung gehen, welche jede Unternehmungsführung mit Bezug auf den Geschäftsgang und den Fortbestand der Unternehmung hat. Diese Verantwortung ist klar definiert, sie ist sogar rechtlich umschrieben, und wenn sie massiv verletzt wird, kommt es in der Regel zu Verantwortlichkeitsprozessen vor den Gerichten. Es handelt sich hier um eine private Verantwortung, denn der Massstab, an welchem sie gemessen wird, ist das Wohlergehen und der Fortbestand einer privaten Unternehmung. Von dieser Verantwortung werde ich also nicht sprechen.
Worum es hier geht ist die Verantwortung gegenüber der Oeffentlichkeit. Oeffentlichkeit wird auch als Res publica bezeichnet, als «öffentlichen Sache» . Die Res publica schlägt sich nieder im republikanischen Gedanken, wonach die Bürger gemeinsam über die öffentlichen Sachen bestimmen sollen, und zwar nach dem Prinzip «eine Person eine Stimme» . Historisch durchgesetzt hat sich diese Vorstellung in der Form und auf der Ebene des Nationalstaates. Die Res publica ist aber längst über den Nationalstaat hinausgewachsen. Die Europäische Union ist ein Teil der Res publica, die internationalen Organisationen sind Res publica, die UNO gehört dazu, und letztlich macht die Gesamtheit der völkerrechtlichen Verträge, die zwischen den Nationalstaaten abgeschlossen worden sind, ebenfalls einen Teil der Res publica aus. Verantwortung gegenüber der Oeffentlichkeit ist Verantwortung gegenüber der Gesamtheit dieser umfassend verstandenen Res publica.
Res publica, die öffentliche Sache oder kurz «die Oeffentlichkeit» umfasst immer alle Menschen und sie regelt Dinge, von denen letztlich alle Menschen betroffen sind. Aber es geht dabei nicht nur um das Betroffensein, sondern es handelt sich um eine eigentliche Rechtsunterworfenheit. Die Res publica produziert nämlich Recht, sie stellt eine Rechtsordnung auf, und dieser Ordnung ist das Individuum unterworfen. Das Individuum hat die Regeln des Recht zu befolgen. Der Franzose nennt den Rechtsunterworfenen «Subjet» . Sub-jekt heisst auf deutsch übersetzt, dass man als Indidviduum unter-worfen ist, vor der französischen Revolution war man dem König unterworfen, nach der Revolution der Repubik, der Res publica. Im deutschen wird das Individuum in dieser Funktion oft als Rechtsperson bezeichnet. Die Rechtsperson ist die Tägerin von Rechten und Pflichten, welche durch die Rechtsordnung definiert werden. Das Gegenstück zur Rechtsunterworfenheit ist das Recht, diese Rechtsordnung mitzugestalten, und in dieser Funktion bezeichnet der Franzose das Indiviuum als Citoyen oder Citoyenne. Der französische Begriff der Citoyenneté kann übersetzt werden mit «Wahrnehmung der Verantwortung für Staat und Gesellschaft» . (1) Citoyenneté bedeutet, dass man die Regeln der Res publica festlegt, indem man an der Gesetzgebung mitwirkt, sei dies nun indirekt, durch die indirekte Demokratie – also die Wahlen in die gesetzgebenden Parlamente -, sei es durch die direkte Demokratie via Referendumsabstimmungen.
Das Individuum hat also zwei voneinander unabhängige Rollen, einerseits als rechtsunterworfene Rechtsperson und andererseits als Mitverfasser der Gesetze, es hat einen Status als «Subjekt» und einen als «Citoyen» , und diese beiden Rollen bedingen sich gegenseitig. Perfekt ist der republikanische Gedanke aber noch längst nicht umgesetzt: Im Status der Citoyenneté – der Mitgestaltung der Res publica – gibt es auf der Ebene der Nationalstaaten immer noch Einschränkungen, weil die Mitwirkung von der Staatsbürgerschaft abhängig gemacht wird. Dies liegt daran, dass sich der republikanische Gedanke vor 200 Jahren zuerst auf der Ebene des Nationalstaates hat durchsetzen können. Im Rahmen der Europäischen Union werden nun auch solche Einschränkung der Mitwirkung langsam überwunden. Anders ist es im Status der Rechtsperson. Ausländer haben die selben Rechtspflichten wie Staatsangehörige. Sie haben aber – abgesehen von den politischen Rechten – auch die selben Rechte. So muss man überhaupt nicht Staatsbürger sein, um Menschenrechte beanspruchen zu können. Gerade der Bereich der Menschenrechte zeigt uns, dass die Res publica schon längst über die Ebene der Nationalstaates hinausgewachsen ist. Nachdem der Zweite Weltkrieg gezeigt hatte, dass Menschenrechtsgarantien in den nationalen Verfassungen in sich zusammenbrechen können, wenn die Staatsmacht in die falschen Hände gerät, hat man diese Rechte nicht nur kurzerhand auf die internationale Ebene verschoben und im Völkerrecht festgeschrieben, sondern man hat auch internationale Schutzmechanismen geschaffen, welche das Individuum beanspruchen kann, wenn es von einer staatlichen Behörde in seinen Menschenrechten verletzt wird. Auch dies geschieht im Rahmen der Res publica. Dann muss hier natürlich auch noch die Einschränkung gemacht werden, dass die Res publica weltweit noch längst nicht überall zufriedenstellend funktioniert. Aber sehr langsam breitet sich der Gedanke doch aus, wenn auch immer wieder mit Rückschlägen
Ich möchte nun am Beispiel der Menschenrechte in kurzen Zügen zwei verschiedene Konzepte umschreiben, wie man sich die Umsetzung dieser Rechte vorstellen kann. Das eine nenne ich das Konzept der Pflichten, das andere nenne ich das Konzept der Verantwortlichkeit.
Geht man bei den Menschenrechten von einem Konzept der Pflichten aus, dann gibt es neben den Menschenrechten auch Menschenpflichten. Menschenrechte sind Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, sie garantieren dem Individuum, dass es nicht vom Staat in seiner körperlichen Integrität und anderen Freiheiten beeinträchtigt wird. Jeder Mensch darf seine Menschenrechte dem Staat gegenüber einfordern und einklagen. Was aber soll geschehen, wenn sich nicht der Staat, sondern mein Nachbar so gebärdet, dass meine Menschenwürde verletzt wird ? Diese Frage beantwortet das Konzept der Pflichten im direkten Verhältnis zwischen mir und meinem Nachbarn. Mein Nachbar hat die moralische Pflicht, sich so zu verhalten, dass meine Menschenwürde respektiert bleibt. Und weil mein Eigennutz darin besteht, dass er sich so verhält, habe auch ich ein Interesse daran, mich so zu verhalten, dass seine Menschenwürde respektiert bleibt. Jeder ist also – sozusagen aus Eigennutz – verpflichtet, die Menschenwürde des Nachbars zu respektieren, damit seine eigenen Menschenrechte gewahrt bleiben. Das Freiheitsverständnis in diesem Konzept basiert auf der Vorstellung vom tugendhaften Bürger. Heute bezeichnet man dieses Freiheitsverständnis auch als kommunitaristisches Freiheitsverständnis. Es geht von der Vorstellung aus, dass sich die Individuen auf freiwilliger Basis zu Gemeinschaften zusammenschliessen, innerhalb welchen man sich gegenseitig anerkennt, und die verschiedenen Gemeinschaften, welche in einem bestimmten Raum zusammenleben, sollen sich auch gegenseitig anerkennen. In diesem Konzept der Pflichten kann die Pflicht so umschrieben werden, dass die Würde der anderen Menschen in der Gemeinschaft und die Würde der anderen Gemeinschaften respektiert werden soll.
Dem Konzept der Verantwortlichkeit liegt eine andere Ueberlegung zugrunde. Der Ausgangspunkt ist zunächst der selbe: Was soll geschehen, wenn sich nicht der Staat, sondern mein Nachbar so gebärdet, dass meine Menschenwürde verletzt wird ? Aber die Antwort beschränkt sich nun nicht auf das Verhältnis zwischen mir und meinem Nachbarn. Die Antwort befasst sich nicht nur mit meiner Stellung als Rechtsperson, sondern sie nimmt meine Stellung als Citoyenne zu Hilfe. Als Citoyenne sorge ich gemeinsam mit allen anderen, denen ihre Freiheit lieb ist, dafür, dass die Rechtsordnung den Nachbarn daran hindert, sich so zu verhalten, dass meine Menschenwürde tangiert wird. Als Rechtsperson bin ich diesen Vorschriften natürlich auch unterworfen, genauso wie mein Nachbar, aber dazu bin ich noch so gerne bereit, denn das Konzept der Pflichten hätte mich ja auch zu diesem Verhalten verpflichtet, nur nicht über das Recht, sondern über die Moral. In diesem Konzept bin ich nun aber nicht darauf angewiesen, dass der Nachbar ein besonders moralischer Mensch ist, und das ist ein grosser Vorteil. Meine Menschenwürde und meine Freiheit sind gesichert, sobald sich der Nachbar an die Rechtsordnung hält. Uebrigens muss auch ich kein besonders moralischer Mensch sein, damit das so ist, auch ich muss mich einfach an die Rechtsordnung halten. Das Konzept der Verantwortlichkeit appelliert nicht an den tugendhaften Bürger.
Erlauben Sie mir dazu eine kurze Klammerbemerkung: Es gibt zwar zwischen den beiden Konzepten einen Unterschied, was die Durchsetzungsmöglichkeiten anbelangt. Die Rechtsordnung verfügt über die Möglichkeit des Durchsetzungszwanges, moralische Pflichten können nicht zwangsvollstreckt werden. Dieser Unterschied in der Durchsetzungmöglichkeit ist aber für die unterschiedliche Denkweise viel weniger wichtig als das Freiheitsverständnis, welches den beiden Konzepten zu Grunde liegt. Wenn ich meinem Nachbarn Moralpredigten halten muss, finde ich das höchst unangenehm, und vor allem sehr unkreativ. Und wer garantiert mir eigentlich, dass der Nachbar zuhört ? Er wird mir nur zuhören, wenn er findet, ich sei eine wichtige Person, weil ich viel Geld oder sonstigen Einfluss habe. Moralpredigten halten finde ich sehr langweilig und ermüdend. Es ist viel spannender, vielfältiger und kreativer, sich in der öffentlichen Diskussion eine Meinung darüber zu bilden, wie man diese Welt letztlich organisiert haben möchte. In einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung hat Philippe Mastronardi, Professor für öffentliches Recht an der Universität St.Gallen, kürzlich genau diesen Unterschied zwischen den beiden Konzepten sehr schön umschrieben, wobei er dies in einem anderen Kontext – Privatisierung öffentlicher Aufgaben – formulierte, aber der Grundgedanke ist übertragbar. Er schreibt folgendes: «Weil die Haltung der Verantwortlichkeit anspruchsvoller ist als jene des Eigennutzes, genügt es nicht, an die individuelle Tugend des Solidarität zu appellieren. Verantwortung muss organisiert werden. Der Staat (ich würde hier sagen «die Res publica» ) ist die wichtigste Organisation der öffentlichen Verantwortung. Daher brauchen Gesellschaft und Wirtschaft den Staat, damit sie ihre Verantwortung wahrnehmen.» (2)
Lassen Sie mich die beiden Konzepte nun kurz im Lichte der Menschenrechte vergleichen, um dann abschliessende zur Beantwortung der Titel-Frage zu kommen. Gerade die Menschenrechte machen uns deutlich, warum das Konzept der Pflichten letztich nicht tauglich ist. Das kommunitaristische Freiheitsverständnis, das vom freiwilligen Zusammenschluss in Gemeinschaften und der gegenseitigen Anerkennung ausgeht, führt sehr rasch zum Ausschluss von Personen oder ganzen Personengruppen. Was ist mit den überzeugten Weltbürgern, die sich nicht irgendwelchen partikularen Gemeinschaften oder Grüppchen anschliessen wollen ? Das einzige Gebilde, dem man ohne wenn und aber zugehört, ist die Res publica, die öffentliche Sache, und sie ist eben deshalb öffentlich, weil ich mein Zugehörigkeit dazu überhaupt nicht begründen muss. Ich muss nicht besonders moralisch sein, um dazuzugehören, ich muss kein Gelübde oder Bekenntnis ablegen, und vor allem muss ich nicht aufgenommen werden, ich muss auch nicht von irgend jemandem anerkannt werden, ich gehöre voraussetzungslos dazu. Der markanteste Unterschied zwischen den beiden Konzepten liegt somit darin, dass das Konzept der Pflichten ohne die Res publica auskommt. Die Citoyenneté spielt darin keine Rolle, und anstelle des Rechts wird an die Moral appelliert. Wie gefährlich das für die Menschenrechte werden kann, erleben wir heute am Beispiel der Aufweichung des Folterverbotes gegenüber vermuteten Terroristen. Dass für einen Teil – und offenbar bis vor kurzem noch für einen mehrheitsfähigen Teil – der amerikanischen Bevölkerung die Folterung von Terrorverdächtigen durchaus diskutierbar war, liegt daran, dass die amerikanische Nation in der Wahrnehmung der eigenen Bevölkerung für das «moralisch Gute schlechthin» steht. Wer diese Nation mit Terroranschlägen bedroht, qualifiziert sich damit als moralisch so minderwertig, dass ihm die Anerkennung als Mensch mit seiner Würde versagt werden darf.
Ich komme zu einer Schlussfolgerung bezüglich der beiden Konzepte: In allen jenen Bereichen, welche eine Gleichbehandlung aller Menschen verlangen, können befriedigende Resultate über das Konzept der Pflichten nicht erreicht werden, sondern nur über das Konzept der Verantwortlichkeit. Es sind dies zunächst und vor allem einmal die Menschenrechte, einschiesslich der Sozialrechte, dann aber sind es auch ökologisch verantwortbare Rahmenbedingungen und der Umgang mit anderen weltweiten Gefahrenpotenzialen. Sie alle bedürfen einer Regelung über die Res publica, weil sie
- erstens alle Menschen als Rechtsunterworfene gleichermassen betreffen, weil
- zweitens alle diese Betroffenen direkt oder indirekt bei der Regelung mitwirken sollen, und dies hat zur Folge, dass sich
- drittens – und das ist hier das wichtigste – alle daran halten müssen.
Damit kann ich nun die Titel-Frage sehr einfach beantworten:
Wenn Unternehmungen durch private Verantwortungsdeklarationen die öffentliche Verantwortlichkeit verstärken wollen, wenn sie damit dieser Verantwortlichkeit gleichsam «zuvorkommen» wollen und sie ergänzen, dann ist das sehr positiv zu beurteilen.
Wenn umgekehrt Unternehmungen durch private Verantwortungsdeklarationen die öffentliche Verantwortlichkeit unterminieren wollen, wenn die private Verantwortung an die Stelle der öffentlichen Verantwortlichkeit treten will und diese gleichsam ersetzen, dann ist die Deklaration das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt worden ist. Ein so verstandenes Dokument verdient die Qualifikation «verantwortlich» nicht, denn es ist Menschen und Natur gegenüber schlicht verantwortungslos.
Vielleicht würde es Sinn machen, eine Präambel zu entwerfen, welche die Zielsetzung klar formulieren würde, wonach die der Präambel folgende Deklaration als Ergänzung öffentlicher Verantwortlichkeit gedacht ist und nicht so verstanden werden darf, dass sie die Verantwortlichkeit gegenüber der Oeffentlichkeit ersetzen oder unterminieren will. Eine solche Präambel könnte den Unternehmungen zur Verfügung gestellt werden, damit sie sie in ihre Deklarationen aufnehmen. Und so würde es sich dann bald herausstellen, in welchen Deklarationen privater Unternehmungen die Präambel figuriert und in welchen nicht.
1) so Erhard Eppler in «Auslaufmodell Staat?» , Frankfurt a.M. 2005, S. 188
2) Neue Zürcher Zeitung vom 4. Januar 2006