Ich bin gebeten worden, zum Thema des Verhältnisses zwischen dem Individuum und den staatlichen Institutionen zu referieren. Ich werde dieses Thema in Zusammenhang bringen mit dem Gegenstand des ganzen Kolloquiums, «Demokratische Institutionen und Zivilgesellschaft in Südosteuropa» . Dabei werden auch Erfahrungen einfliessen, die ich gegenwärtig in Bosnien mache.
Zunächst ist mir beim Vergleich des Titels meines Referates und desjenigen des Kolloquiums ein Unterschied aufgefallen. Ist mit «Demokratische Institutionen» und «Staatliche Institutionen» das selbe gemeint ? Ich glaube Ja. Und dennoch drängt sich dazu eine Bemerkung auf. Was ein Staat ist, ist klar definiert. Wenn er demokratisch funktioniert, so ist er eine Demokratie. Andernfalls ist der Staat eine Diktatur. Sowohl in der Demokratie wie in der Diktatur gibt es staatliche Institutionen. Im ersten Fall sind die staatlichen Institutionen demokratisch kontrolliert, im zweiten Fall sind sie es nicht. Ich würde es nun aber sehr gefährlich finden, wenn sich eine Sprachregelung durchsetzen würde, wonach man staatliche Institutionen in einer Demokratie immer als demokratische Institutionen bezeichnen müsste. Dadurch würde der Begriff der «staatlichen Institution» – gleichsam e contrario – in die Nähe mangelnder Demokratie gerückt. Das Wort «staatlich» würde eine negative Konnotation erhalten. Und gerade für Südosteuropa, aber überhaupt für Europa wäre das sehr gefährlich. Ich werde darauf zurückkommen.
Ich werde also bewusst den Begriff «staatliche Institutionen» verwenden. Damit meine ich das ganze Spektrum dieser Institutionen, Regierung und Verwaltung, Parlamente, die Justiz. Und ich meine damit auch die Institutionen auf allen Ebenen des Staates, also auch auf regionaler oder Gemeindeebene, sofern diese Ebenen mit eigenen staatlichen Institutionen ausgestattet, und nicht blosse Verwaltungseinheiten sind.
Welches ist nun das Verhältnis des Individuums zur staatlichen Institution und andererseits zu den Organisationen der Zivilgesellschaft ? Ich möchte mit einem etwas ungewöhnlichen Ansatz in die Themtik einsteigen. Ich möchte zunächst danach fragen, wie das Individuum auf diese beiden Strukturen Einfluss nehmen kann und wie sie sich finanzieren.
Zuerst zu den staatlichen Institutionen. Oeffentliche Gelder kommen von Steuerzahlern. Die Steuerpflicht wird von demokratisch kontrollierten Behörden oder Parlamenten festgelegt. Völlig getrennt von der finanziellen Leistung ist die Einflussnahme des Individuums: Sie geschieht in regelmässigen Wahlen, allenfalls in Referenden, und unabhängig von der Steuerleistung gilt «one man – one vote» . Darüber hinaus kann sich der Einzelne in ein öffentliches Amt wählen lassen, wenn er intensiver Einfluss nehmen will. Und in wirklichen Demokratien wird durch Gesetze und Finanzregelungen dafür gesorgt, dass sich fähige Kandidatinnen und Kandidaten auch dann erfolgreich um ein öffentliches Amt bewerben können, wenn sie nicht besonders begütert sind.
Nun zur Zivilgesellschaft. Es gibt darin Organisationen, die ähnlich funktionieren, mit gleicher Stimme für alle Beteiligten bei klar geregelten Mitgliederbeiträgen. Die Einflussnahme des Individuums auf diese Organisationen kann aber durchaus auch mit dem finanziellen Einsatz gekoppelt sein. Spenden unter gewissen Auflagen oder mit gewissem Verwendungszweck sind durchaus zulässig.
Wenn Organisationen von freiwilligen Spenden und Beiträgen leben, müssen sie immer wieder Erfolge ausweisen, damit sie sich finanzieren können. Gelegentlich müssen sie auch ihre Existenzberechtigung unter Beweis stellen, was zum teil relativ kurzfristige Erfolge nötig machen kann. Ganz anders bei staatlichen Institutionen: Für sie ist der Erfolgsdruck weniger kurzfristig. Für Regierung und Verwaltung erstreckt er sich über eine Wahlperiode von in der Regel einigen Jahren. Das heisst, dass ein Anstreben längerfristiger Ziele auch dann möglich ist, wenn sie kurzfristig als noch nicht erfolgreich erscheinen. Der Staat muss seine Existenzberechtigung nicht ausweisen, denn es braucht ihn. Und auf einem bestimmten Territorium hat er – jedenfalls zu Friedenszeiten – keine Konkurrenz.
Nun möchte ich aber die staatliche Struktur mit der Zivilgesellschaft noch in drei weiteren Elementen vergleichen: Hinsichtlich der Zugehörigkeit des Individuums, der Gewaltanwendung und der vertretenen Werte.
Zunächst ein Wort zur Zugehörigkeit. Zum Staat gehöre ich immer. Es kann sich zwar die Frage stellen, welchem Staat ich angehöre, ob ich allenfalls verschieden Staaten angehöre, oder ob ich staatenlos bin, ein Zustand, den es in der Regel baldmöglichst zu beheben gilt. Wenn aber die Frage einmal geklärt ist, welchem Staat ich angehöre, so kann mich dieser Staat nicht ausgrenzen. Selbst wenn ich nie an Wahlen teilnehme, steht mir die Teilnahme beim nächsten mal offen. Und Steuern zu bezahlen habe ich auch – ein Umstand, der uns allen ja nicht immer gefällt, den wir aber in Kauf nehmen. Ganz anders die Zivilgesellschaft. Wenn ich den Mitgliedschaftsbeitrag in einem Verein nicht mehr bezahlen will, oder wenn mir die Aktivität des Vereins nicht mehr zusagt, so trete ich einfach aus. Von der Zivilgesellschaft kann man sich dispensieren. Oder – und das ist bedeutsam – man kann sich von der Zivilgesellschaft ausgegrenzt fühlen. Die Zivilgesllschaft hat das Recht, auszugrenzen. Der Staat hat dieses Recht nicht, er hat definitionsgemäss Verantwortung für alle.
Der nächste Punkt, die Gewaltanwendung ist rasch erklärt: Gewaltanwendung – polizeiliche und militärische – muss ein Monopol des Staates sein. Würden sich diesbezüglich die Grenzen zwischen Staat und Zivilgesellschaft verwischen, so hätten wir eine gefährliche Situation. Bürgerwehren und Privatmilizen sind der Anfang vom Ende eines funktionierenden Staates. Der Staat muss die Zivilgesellschaft rechtlich so einbinden, dass dies nicht geschehen kann. Auf diesen Punkt werde ich zurückkommen.
Nun als letztes zu den Werthaltungen. An sich sind den Werthaltungen, für die sich Gruppierungen der Zivilgesellschaft stark machen können, keine Grenzen gesetzt. Aber gerade darin liegt auch ein Problem. Eine zivilgesellschaftliche Gruppierung kann auch Ideen vertreten, die durchaus zweifelhaft sind. Wer hindert eine solche Gruppierung beispielsweise daran, rassistische Gedanken zu pflegen ? Oder wer hindert eine religiöse Vereinigung daran, religiöse Intoleranz zu predigen und ihren Mitgliedern gegenüber rigoros anzuwenden ? Wer kann solchen Auswüchsen Einhalt gebieten ? Die Antwort ist einfach: Es ist der Staat. Der Staat hat eine Verfassung mit darin definierten Grundrechten. Die Zivilgesellschaft hat keine Verfassung. Es ist deshalb hier dasselbe wie beim letzten Punkt: Der Staat muss die Zivilgesellschaft rechtlich einbinden. Nur er kann Wertgrundsätze und die Grundrechte letztlich garantieren und durchsetzen. Nur der Staat hat das Justiz- und das Gewaltmonopol.
Vielleicht werfen Sie mir nun vor, ich würde hier ein recht negatives Bild der Zivilgesellschaft zeichnen. Dabei haben Sie gar nicht so unrecht. Deshalb werde ich nun erklären müssen, weshalb es gerade im Zusammenhang mit Südosteuropa sehr wichtig ist, in all diesen Definitionsfragen sehr klar zu sehen.
Hier muss ich auf den Begriff der Identität des Individuums zu sprechen kommen. Ein Individuum sollte möglichst vielfältige Identitäten haben, die sich überlagern. Das können freigewählte Identitäten sein, in der Kultur, in der Arbeit, in politischen Aktivitäten, in vielfältigen Gruppierungen und Vereinen. Es können aber auch Identitäten sein, in welche der Einzelne hineingeboren worden ist, also in der Familie, in der Herkunft – und da meine ich durchaus auch die ethnische Herkunft. Die religiöse Identität möchte ich eigentlich zu den freigewählten Identitäten zählen, da bin ich zu sehr von der französischen Revolution geprägt. In Südosteuropa ist diese Identität jedoch für viele Menschen eine, in die man hineingeboren worden ist. Und zu all diesen Identitäten kommt die staatsbürgerliche Identität hinzu. Diese kann freigewählt oder durch Geburt erworben sein. Auch die staatsbürgerliche Identität kann in sich selber schon vielfach sein. Sie betrifft den Staat an sich – ich sage hier bewusst nicht «Nationalstaat» , da der Begriff der «Nation» in Teilen Südosteuropas ja ganz anders besetzt ist -, sie betrifft aber unter Umständen auch die Region, die Gemeinde. Aber auch die Identität als Europäer oder Europäerin ist letztlich eine staatbürgerliche Identität, welche zu den anderen Ebenen hinzukommt.
Die wichtigste Aufgabe der Zivilgesellschaft ist es, die vielfachen Identitäten der Individuen garantieren zu helfen. Ein Einzelner mit vielfachen Identitäten ist für die Gesellschaft eine Bereicherung. Ein solches Individuum trägt den Staat mit und sichert den Frieden in der Gesellschaft, weil keine seiner verschiedenen Identitäten eine ablolute werden kann.
Entwickelt der Einzelne hingegen eine Mono-Identität, so wird es gefährlich. Von verschiedenen Sekten wissen wir, dass sie absolute Identität verlangen, die alle anderen Identitäten ausschliesst. Und mit diesem Gedanken sind wir nun in der zentralen Thematik verschiedener südosteuropäischer Konfliktsituationen der vergangenen Jahre. In solchen Konfliktsituationen beginnt die ethnische Identität eine absolute zu werden, die alle anderen Identitäten, insbesondere auch die staatsbürgerliche Identität wegwischt. Solche Entwicklungen haben durchaus pathologische Züge.
Wir kennen alle die Vorbedingungen, die gegeben sein müssen, damit so etwas passieren kann. Es ist einerseits die historische Konstellation, dass man auf der geografischen Karte ethnische Grenzen gar nicht einzeichnen könnte, oder dass diese mit den Grenzen der Staaten nicht übereinstimmen, und wohl auch nie werden übereinstimmten können. Auf der anderen Seite ist es das verbrecherische Verhalten von populistischen Volksführern, die den Leuten diese Mono-Identität einreden. Mono-Identität führt aber immer zur Ausgrenzung all jener, die nicht zur selben Gruppe gehören, sie führt zu Rassismus, sie führt immer letztlich auch zur Agression und Krieg.
Wer nur noch ethnisch mono-identifiziert ist, hat das Bewusstsein verloren, dass staatliche Institutionen unter anderem dazu da sind, politische Verfahren zum gewaltlosen Ausgleich von Interessengegensätzen anzubieten, seien diese Interessengegensätze nun politisch-ideeller, ökonomischen, herkunftsbezogegen (ethnischen oder ethnisch-kulturellen) oder anderen Ursprungs. In Extremfall führt dieses Denken dazu, dass man Staatlichkeit als solche nur noch akzeptiert, wenn sie als Mantel für eine einzige und ungemische ethnische Gruppe dient. Dies bedeutet die Kapitulation der Staatlichkeit. Wie gefährlich das ist, haben uns in den vergangenen Jahren die Kriege in Ex-Jugoslavien gezeigt.
Wie gefährlich es ist, wenn staatliche Institutionen nicht mehr anerkannt werden, mag abschliessend das Beispiel Bosnien belegen: Verweigerung staatlichen Handelns ist in Bosnien alltäglich. Regierungen lehnen in konkreten Fällen die Verantwortung für polizeiliches Handeln ab, da sie über die Polizei eines bestimmten Gebietes keine Autorität hätten bezw. es sich dort nicht um eine staatiche Polizei handle. Urteile werden nicht vollstreckt, weil sie zugunsten von Personen lauten, die einer von der Behörde nicht bevorzugten ethnischen Gruppe angehören. Parlamente arbeiten nicht seriös, weil dies schon eine Anerkennung interethnischer Zusammenarbeit wäre, was sehr viele Parlamentarier dezidiertermassen nicht wollen.
Viele Leute wählen aber immer noch genau diese Politiker, und dies wird so lange so bleiben, als die ethnische Identität alles andere noch so massiv überlagert. Es wird insbesondere so lange dauern, bis sich in der Bevölkerung wieder ein klares staatsbürgerliches Bewusstsein manifestiert. Es wird so lange dauern, bis die diffusen Vorstellungen vom Schutz durch Angehörige der eigenen ethnischen Gruppe ersetzt werden durch das Vertrauen in den Schutz durch staatliche Strukturen. Und es wird so lange dauern, bis die ethnisch motivierten Schutz- und Gewaltaktionen wieder ersetzt sein werden durch das staatliche Gewaltmonopol.
Lassen Sie mich eine Schlussfolgerung ziehen, die kurz und einfach ist: Anstrengungen zur Förderung der zivilen Gesellschaft im Sinne des Wiederaufbaus privater Interessenvereinigungen und Beziehungsgeflechte sind sinnvoll. Wenn jedoch parallel dazu nicht massive Anstrengungen zur Förderung des staatsbürgerlichen Bewusstseins und zugunsten funktionierender staatlicher Institutionen unternommen werden, könnte auch die Föderung der zivilen Gesellschaft erfolglos bleiben.